Berlin.

Die Sommerinterviews der TV-Sender mit Spitzenpolitikern haben Tradition. Oft reisen TV-Teams dann an den Urlaubsort der Politiker, manchmal kommt auch Persönliches zur Sprache. Im Sommer des Jahres 2018 ist das Sommerinterview des ZDF mit der Bundeskanzlerin eine eher spröde Angelegenheit. Und monothematisch. Gut 20 Minuten wird die Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel bei der Aufzeichnung am Sonntagnachmittag mehrfach betonen, dass es ihr „um die Sache geht“, dass sie gemeinsam mit der CSU „Verantwortung für unser Land wahrnehmen“ möchte und dass es in der Politik manchmal rau zugehe: „Das muss man aushalten.“

Alles politische Binsenweisheiten, möchte man meinen. Die wahren Pro­bleme des Landes liegen eigentlich woanders, etwa in der Handelsauseinandersetzung mit US-Präsident Donald Trump. Doch der erbitterte Streit zwischen CDU und CSU überlagert alles, die Kanzlerin äußert sich ausschließlich zum Showdown mit der Schwesterpartei. Dabei wiederholt sie ihre Haltung und ihre Einschätzung des gerade zurückliegenden EU-Gipfels: Sie sei mit den Bemühungen auf EU-Ebene in den vergangenen 14 Tagen „einigermaßen zufrieden, aber es gibt noch viel zu tun“. Sie sei an der Sache interessiert. Sie verstehe den Wunsch nach „einfachen Lösungen“. Aber auch wenn sie nicht mehr Kanzlerin sei, werde sich an den Problemen bei der Migration nichts ändern, betont die CDU-Chefin. Jetzt werde sie für ihre Position kämpfen und werben.

Bereits beim Treffen am Sonnabendabend im Kanzleramt mit CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer zeigte sich Merkel unnachgiebig. Ihrer Meinung nach hat sie alles gegeben und vieles erreicht in Europa. Mit 14 Staaten will sie Rückführungsabkommen verhandelt haben; dass vier (Tschechien, Ungarn, Polen und Slowenien) dies abstreiten, bedauert sie, hält es für Missverständnisse. Auch sie wolle die Migration nach Deutschland reduzieren, genauso wie Seehofer. „Wir streiten nur über den Weg dahin.“

Hektik am Abend in der CDU-Zentrale

Der Streit der Schwesterparteien hat sich daran entzündet, dass Seehofer ein Zeichen setzen wollte, dass Deutschland Ernst mache mit der Begrenzung der Migration. Er setzt sich dafür ein, dass an der deutsch-österreichischen Grenze Menschen zurückgewiesen werden, die bereits in einem anderen EU-Land ein Asylverfahren durchlaufen.

Die Kanzlerin hat sich in der zurückliegenden Woche kaum Schwächen erlaubt. Eine Situation allerdings gab es: Als nach stundenlangen nächtlichen Verhandlungen der EU-Gipfel zu Ende war und es endlich eine Vereinbarung gab, traf Merkel vor den Türen auf den finnischen Regierungschef Juha Sipilä – und fällt ihm nahezu in die Arme. Für einen kurzen Augenblick schließt sie die Augen, während der Finne – ein Verbündeter in den Verhandlungen drinnen – sie festhält. Es ist ein sehr kurzer Augenblick der Erleichterung, den die Kameras festhalten – und der den Druck zeigt, der auf der 63-Jährigen lastet.

Die CSU habe sie angespornt, sagt sie, und sie sei mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden. Doch sie muss sich vorwerfen lassen, dass sie die Zeichen in der CSU nicht richtig gedeutet hat.

Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, neben Seehofer und dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder eine der Schlüsselfiguren im Streit, verkündete in Berlin bereits früh, dass der Masterplan Zurückweisungen an den Grenzen beinhalte. Als aus der Vorstandssitzung in München am Nachmittag Signale dringen, dass Seehofer die in Brüssel vereinbarten Maßnahmen nicht ausreichen, wird ihr klar geworden sein, dass die CSU – in der politischen Klemme – es ihr nicht leicht machen wird.

Hinwerfen will die Kanzlerin auf keinen Fall. Egal, wie ihr Innenminister und mit ihm die bayerische Schwesterpartei entscheiden. Merkel hat schon in den vergangenen Tagen gezeigt, dass sie sich nicht wegducken will. Vor zwei Wochen hielt sie an einer Reise nach Jordanien und Libanon fest, weil die Kanzlerin damit ihren Ansatz unterstreichen wollte, den Migrationsdruck auf die EU und Deutschland durch Kooperationen mit den Nachbarn zu lösen.

Merkel weiß, dass es ernst ist. Spätestens in den Tagen der Reise in den Nahen Osten muss ihr auch klar geworden sein, dass die sachliche Diskussion in Teilen der CSU nicht mehr zählt, sondern sie als Person zur Zielscheibe geworden ist. Ihre Antwort: sachlich bleiben, zu den eigenen Überzeugungen stehen. Doch sie hat unmissverständlich klargemacht, dass sie ihre Richtlinienkompetenz einsetzen würde und Seehofer entließe – wenn, ja, wenn der Innenminister eigenmächtig nationale Zurückweisungen anordnet.

Die 63-Jährige wird um ihre vierte Kanzlerschaft kämpfen. Vor allem um ihre Überzeugung, dass ein geeintes Europa das größte Geschenk an die nachfolgenden Generationen ist.

In der CDU-Parteizentrale wird es am Sonntagabend hektisch: Die Nachrichten von einer unnachgiebigen CSU sickern durch. Kopfschütteln bei den ankommenden Präsidiumsmitgliedern. Hessens Ministerpräsident und CDU-Vize Volker Bouffier gibt den Takt vor: Europa habe sich bewegt, da könne man jetzt keine nationalen Alleingänge machen. Kurze Zeit später heißt es aus CDU-Kreisen gegenüber dieser Zeitung, man stelle sich hinter die Vorsitzende und Kanzlerin: Europa habe sich so weit bewegt, dass es nun Aufgabe der Bundesregierung sei, die Beschlüsse vom EU-Gipfel mit den angestrebten bilateralen Abkommen in einem Zeitrahmen von einem halben Jahr zu verhandeln. Nationale Alleingänge seien falsch.

Dann kommt ein fassungsloser Peter Altmaier in die CDU-Zentrale. Es gehe um die Handlungsfähigkeit des Landes. CDU und CSU müssten zusammenbleiben. Ein CDU-Politiker winkt von fern: Er habe gerade die CSU in der Leitung. Schulterzucken.

Merkel wird in der Sitzung des CDU-Vorstands, der vollständig erschienen ist, leidenschaftlich. Sie werde in Europa unglaubwürdig, wenn sie trotz der letzten Erfolge in Brüssel jetzt zurückweisen würde. „Dann muss ich mich auf europäischer Ebene nicht mehr blicken lassen“, wird sie zitiert. Die Situation mit den Christsozialen bezeichnet sie als „sehr ernst“. Während Seehofer den Masterplan in München verteilt, wartet man in Berlin immer noch darauf. „Im Augenblick rollen die Züge aufeinander zu“, beschreibt EU-Kommissar Günther Oettinger die Lage.

Am späten Abend verabschiedet der CDU-Vorstand einen Beschluss: „Einseitige Zurückweisungen sind das falsche Signal an unsere europäischen Gesprächspartner“, heißt es da. Die Beschlüsse des Europäischen Rates seien „ein großer Fortschritt“. Die Umsetzung solle schnellstmöglich erfolgen. Auch wenn der Bestand der Fraktionsgemeinschaft in der Vorstandssitzung immer wieder betont wird: Es gibt kein Zugehen auf die CSU.