Berlin.

Geruhsam geht es zu im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Leise und leer sind die Flure, nur der Paternoster rumpelt einsam durch die 13 Etagen. Die Arbeit findet im Verborgenen statt. Fleißig liefert die Behörde Zahlen, Daten, Fakten ab. Nachrichten im Tagestakt: Die Gurken sind teurer geworden, genauso Haartönungen, die Kartoffeln dagegen billiger, auch Damenröcke kosten heute weniger als vor einem Jahr. Vater Staat will ja wissen, wie das Land sich so verändert. Also sammelt, rechnet, bewertet und liefert der Riesenapparat. Nichts, worüber man sich aufregen könnte.

Fast nichts. Seit die Ergebnisse der großen Volkszählung von 2011 bekannt sind, muss die stille Behörde mit lauten Störgeräuschen klarkommen. Im Mai 2013 stellten die Statistiker nämlich den Zensus 2011 vor – mit erstaunlichem Ergebnis: Deutschland hat viel weniger Einwohner als angenommen. Statt 81,8 nur 80,2 Millionen. Besonders betroffen waren Berlin und Hamburg. Die Hauptstadt verlor im Zensus mal eben 180.000 Einwohner, schrumpfte auf knapp 3,3 Millionen Menschen, die Hansestadt wurde um 83.000 Bürger auf 1,7 Millionen reduziert.

Berlin und Hamburg sehen eine Ungleichbehandlung

Die beiden Stadtstaaten sehen sich bis heute zu Unrecht kleingerechnet. Sie halten die Art der Erhebung, die auch mit Stichproben durchgeführt wurde, für einen Verstoß gegen das Grundgesetz. Anders als bei der Volkszählung 1987 schwärmten 2011 nicht Hunderttausende Interviewer aus, um die Bürger zu befragen. Es sollte effizienter und günstiger funktionieren. Nur etwa zehn Prozent der Einwohner erhielten Fragebögen, es wurden hauptsächlich die vorhandenen Meldedaten genutzt. Doch bei der methodischen Bereinigung aller Daten ging das Bundesamt mit großen Städten anders um als mit Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern. Berlin und Hamburg erkennen darin eine Ungleichbehandlung. Vor allem: Weniger Einwohner bedeuten weniger Steuereinnahmen. Auch für den Zuschnitt von Wahlkreisen sind exakte Einwohnerzahlen unentbehrlich, auch für die Sitzverteilung im Bundesrat.

Nun muss das Bundesverfassungsgericht demnächst ein Urteil sprechen. Eines, das nicht nur gewaltige Konsequenzen für das Selbstverständnis der Wiesbadener Behörde haben könnte. Sondern auch für den Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Es geht um eine vermeintlich einfache Frage: Wie zählen wir eigentlich unsere Einwohner?

Oktober 2017, Verhandlung in Karlsruhe. Die Emissäre des zuständigen Bundesinnenministeriums und des Statistischen Bundesamtes machen sich auf, um den Verfassungsrichtern ihre Argumente vorzutragen. Für die Bundesregierung ist Innenstaatssekretär Klaus Vitt vor Ort. Er sagt: „Aus Sicht der Bundesregierung war der Zensus 2011 erfolgreich und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“ In einem freien Land könne die Einwohnerzahl nie ganz exakt ermittelt werden. Berlins Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) rechnet dagegen vor, dass der Hauptstadt nunmehr jährlich 470 Millionen Euro aus dem Finanzausgleich fehlen. Hamburgs damaliger Finanzsenator und heutiger Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) spricht von 100 Millionen Euro, die seiner Stadtkasse pro Jahr entgehen. Es ist über die Jahre gerechnet eine Milliardensumme, auf die das Statistische Bundesamt Einfluss nimmt.

Der Streit mutet merkwürdig an. Zur Aufklärung geht es nach Wiesbaden, zu Chefstatistiker Georg Thiel. Der ist seit einigen Monaten Präsident des Statistischen Bundesamtes, ein großer, freundlicher Mann. Thiel müsste am besten erklären können, warum es in diesem Land so schwierig ist, Menschen zu zählen: Man müsse zwei Einwohnerzahlen unterscheiden, warnt er vorab. „Wenn wir alle Zahlen aus den Einwohnermeldeämtern zusammenrechnen, kommt eine andere Einwohnerzahl heraus als unsere statistische Zahl.“

Es wird knifflig. Ausgangspunkt seien derzeit die Daten vom Zensus 2011, erklärt er. Dabei habe man grob gesagt die Daten der Melderegister abgeglichen und die Einwohnerzahlen durch zusätzliche Stichproben und Hochrechnungen „statistisch korrigiert“. Ein ziemlich kompliziertes Verfahren sei das, gibt er zu. Aber: Eine genauere Zahl „als die von uns ermittelte“ gebe es nicht. „Wir können uns noch nicht allein auf Melderegister verlassen“, sagt er. Mit anderen Worten: Die Länder sind selbst schuld, wenn sie ihre eigenen Einwohnerstatistiken nicht gut genug pflegen. „Da könnten zum Beispiel Zigtausende Menschen aufgrund von Umzügen mehrfach gemeldet gewesen sein“, führt der Chefstatistiker an. „Oder Menschen, die ins Ausland verzogen sind, könnten immer noch in den Melderegistern enthalten gewesen sein.“ In jedem Fall hätten die Ergebnisse gezeigt, dass die Qualität der Melderegister sehr unterschiedlich ist.

Kein Wunder, dass dieser Streit in Karlsruhe landen musste. „Wir hören, dass das Urteil im Herbst kommen soll, und sind gespannt, was uns das oberste Gericht ins Stammbuch schreiben wird“, sagt Thiel. Er will endlich Klarheit: „Wir warten händeringend auf Karlsruhe.“ Wegen des Urteils ruhen auch die rund 340 Verfahren von klagenden Kommunen vor den Verwaltungsgerichten. Der Konflikt um den Zensus ist also noch viel größer.

Trotzdem arbeitet die Statistikbehörde längst an der nächsten Volkszählung, dem Zensus 2021. Dafür ist ein Zensus-Durchführungsgesetz nötig, auf dessen Grundlage das Bundesamt erst richtig loslegen kann. Aber ohne Urteil kein neues Gesetz. „Bisher können wir nur Vorbereitungen leisten. Das tun wir schon intensiv“, verrät Thiel. „Wir haben zahlreiche zusätzliche Mitarbeiter eingestellt, die den Zensus 2021 vorbereiten.“ Auch eine Firma wurde bereits unter Vertrag genommen, „die die notwendigen Softwareentwicklungen gemeinsam mit uns erarbeitet“.

Bleibt eine letzte Frage: Wie viele Einwohner hat Deutschland heute? Thiel blickt kurz auf den Zettel vor sich: „Es sind ziemlich genau 82.740.900 Einwohner, davon sind 73.165.500 deutsche Staatsbürger.“ Er sagt es in einem Ton, der keine Zweifel aufkommen lassen soll. Seine Zahl ist eine statistische. Sie bildet den Stand am 30. September 2017 ab, frischere Daten gibt es nicht. Seine Zahl ist eine Ableitung vom umstrittenen Zensus 2011 unter Berücksichtigung von Geburten, Sterbefällen – und Wanderungen. Das heißt, auch alle zu dem Zeitpunkt in Deutschland lebenden, registrierten Flüchtlinge sind darin berücksichtigt. Sie sind der nächste Unsicherheitsfaktor. 82.740.900 – ob die Zahl wirklich stimmt, kann im Moment niemand sagen.