Berlin.

50 Dollar Gehalt bekommt Deniz B. jeden Monat vom „Islamischen Staat“. Er arbeitet als Pfleger in einem Krankenhaus der Terrororganisation in Tal Afar, westlich von Mosul. 50 Dollar pro Familienmitglied, für sich selbst und seine Frau, die deutsche Sibel H., geboren 1987 in Bayern. Es ist Sommer 2016, der IS erleidet militärische Rückschläge, doch kontrolliert er noch immer viele Gebiete in Syrien und Irak, Hunderte Islamisten reisen weiterhin aus aller Welt in das Kampfgebiet. Sie schwärmen vom IS-Staat, wollen ihr „Kalifat“ aufbauen – nach rigider Scharia und mit Brutalität gegen jeden, der sich in den Weg stellt.

Auch der aus Frankfurt stammende Deniz B. und seine Frau Sibel H., nach islamischem Recht verheiratet, zieht es in den IS-Staat. Mithilfe eines IS-Schleusers gelangen sie im März 2016 über die Türkei nach Syrien und dann in den Irak. Im November wird ihr Sohn geboren, sie nennen ihn Jundullah, Armee Gottes.

Während Deniz B. Kranke pflegt, hat sich Sibel H. „um den Haushalt“ gekümmert und die für ihre „gemeinsame Lebensführung“ im IS-Staat nötige Einkäufe erledigt. Zwei überzeugte Islamisten, zwei Anhänger der Terrorgruppe IS, da sind sich die Ermittler sicher. Im August 2017 flieht das Ehepaar mit ihrem Sohn vor den Angriffen gegen den IS in den irakischen Norden, zu den kurdischen Peschmerga. Die Kurden nehmen beide fest, H. ist wieder schwanger.

Deniz B. sitzt heute noch immer in Haft im Irak. Sibel H. ist zurück in Deutschland, auf freiem Fuß, ein Haftbefehl gegen sie wurde vom Bundesgerichtshof (BGH) abgelehnt. Die heute 31 Jahre alte Frau, so sagen die Richter, habe einen Alltag im Herrschaftsgebiet des IS gelebt und mit der Ideologie sympathisiert. Doch eine Unterstützung oder gar Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung sei damit nicht belegt. Mehrere Ermittler und Staatsanwälte befürchten im Gespräch mit dieser Redaktion, dass künftig viele Taten ungesühnt bleiben werden. Verantwortlich, so sagen sie, sei auch dieser wegweisende Beschluss des BGH im Fall H. Ist das gerecht?

Mehr als 1000 Islamisten sind seit 2013 ins Dschihad-Gebiet ausgereist, vor allem 2014 und 2015. 270 Frauen und Kinder sind nach Angaben des Innenministeriums noch in der Region, viele sitzen in Haft. Auf Nachfrage dieser Redaktion schreibt eine Sprecherin, „75 Prozent der Kinder sind nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden unter drei Jahre alt“ – es sind Kinder des Dschihads. Laut Innenministerium liegen nur gegen eine niedrige zweistellige Zahl Haftbefehle vor. Einige Dutzend Ermittlungen laufen bei der für Terrorismus zuständigen Bundesanwaltschaft. 2018 allein gegen zehn beschuldigte Frauen, seit 2015 waren es knapp 60 Verfahren gegen mutmaßliche Dschihadistinnen.

Doch viele Dutzende mutmaßliche IS-Anhänger könnten ohne Haftbefehl zurückkehren. Mehr als 350 sind wie Sibel H. bereits wieder in Deutschland. Manche gelten als traumatisiert von Krieg und Gewalt. Viele aber sind laut Sicherheitsbehörden weiterhin gewaltbereit und kampferprobt. Viele haben sich an schweren Verbrechen in Nahost beteiligt. Doch bisher hat die Bundesanwaltschaft nach eigenen Angaben in nur 36 Verfahren Anklage erhoben gegen Personen, die in Syrien und Irak waren. Bundesweit sind es laut Sicherheitsbehörden ein paar Dutzend Urteile. Es fehlen Beweise: für Tötungen im Kampfgebiet, für Folter, Mord. Häufig sogar ein Beleg für die Mitgliedschaft beim IS. Aber passt diese Rechtsauslegung noch zum Terror des IS?

Dessen Propaganda war in der Hochphase der Dschihadisten ausgelegt auf den Aufbau eines „Kalifats“, eines Pseudo-Staates mit Ministerien, eigener Justiz, eigener Währung, Steuern und Gehältern. Zu diesem „Islamischen Staat“ gehörten Kämpfer, aber auch Geheimdienstler, Schatzmeister, Krankenpfleger und Lehrer. Vieles war mehr Fassade und Inszenierung, aber die Bilder aus dem „Kalifat“ haben laut Ermittlern eine „Sogwirkung“ auf Gleichgesinnte in Europa entfacht. Sie reisten in den „Staat“, verstärkten ihn personell mit Kämpfern und Angestellten wie Deniz B.

Auch den Frauen kam in der Ideologie des IS eine Rolle zu: Sie sollen mit ihren „Kämpfern“ Kinder zur Welt bringen, sie in der Ideologie des „Kalifats“ großziehen, den Haushalt führen und ihren „Löwen im Kampf“ den Rücken stärken. Frauen seien für den „Fortbestand des IS unentbehrlich“, sagt die Bundesanwaltschaft. Eine Straftat wie Mord oder nur den Treueeid auf den IS können die Staatsanwälte Frauen wie H. nicht nachweisen.

Seit Jahren versuchen Kriminalbeamte und Geheimdienstler, Beweise des IS-Terrors zu sammeln. Sie werten Handys und Computer von Beschuldigten aus, sie checken „Registrierungsbögen“, in die der IS neue Dschihadisten eingetragen hatte. Die USA haben FBI-Kriminalisten in den Irak und Syrien geschickt, um Fingerabdrücke, DNA-Spuren und andere Beweismittel in von IS befreiten Gebieten zu sichern.

In Deutschland wurden Gesetze verschärft: Schon die versuchte Ausreise in ein Dschihad-Gebiet steht unter Strafe, verdächtigen Islamisten kann der Reisepass entzogen werden. In „Leitlinien“ arbeiten die Innenminister der Bundesländer derzeit den Umgang mit Rückkehrern aus dem IS-Gebiet aus. Ein Entwurf liegt dieser Redaktion vor. Sobald bei einer Polizeidienststelle, einer Ausländerbehörde, einer Botschaft oder bei Grenzkontrollen Informationen von Dschihadisten auftauchen, sollen diese über die Länder „unverzüglich“ bis ins Lagezentrum des Bundeskriminalamtes gemeldet werden. Wer ausreist, soll unmittelbar in die Datenbanken der Polizei eingetragen werden. Wer wieder zurück ist, soll überwacht werden. Bei Nicht-Deutschen, die ausreisen, soll geprüft werden, ob der Aufenthaltstitel erlischt. Das alles sind Maßnahmen, die Landesregierungen derzeit diskutieren.

Sibel H. sprach das höchste deutsche Zivilgericht vom Vorwurf der Terrormitgliedschaft frei. Nur weil sie ihren „häuslichen Pflichten“ beim IS nachkam, sei sie nicht in die Organisation eingebunden gewesen. Mit ihrer Präsenz in den Straßen von Mosul etwa beim Einkaufen habe H. nicht den IS gestärkt. Dafür, dass sie ihren Mann „psychisch unterstützt“ habe beim Einsatz für den IS, würden Belege fehlen. Sibel H. wird jetzt in einem Programm für Rückkehrer von Sozialarbeitern und Psychologen betreut. Das Verfahren des Generalbundesanwalts läuft noch. Die Aussicht auf eine Verurteilung für ihre Zeit im „Dschihad“ ist gering. Ihre Zeit beim IS bleibt womöglich ungesühnt.