Tunis/Riad.

30 Jahre haben sie auf diesen Augenblick gewartet. Punkt Mitternacht brach auf den Straßen von Riad, Dschidda, Dammam und Dhahran der Jubel aus, als sich die ersten Autos mit Frauen am Steuer in Bewegung setzen. Die einen ließen ihren Gefühlen mit lauter Musik freien Lauf, andere winkten fröhlich den Umstehenden zu oder gaben Interviews durch das offene Wagenfenster.

Den ganzen Sonntag über liefen Twitter, Facebook und Youtube über mit Fotos und Videos, auf denen Frauen das Festival ihrer ersten Lenkradminuten dokumentieren. So wie Hind Alzahid, die am Ende ihrer Premiere auf dem Parkplatz einer Shopping-Mall von lachenden Frauen umarmt wurde: „Ich bin total begeistert, wir schreiben Geschichte“, rief sie. „Dieser Tag wird Saudi-Arabien verändern.“

Die Polizei war mit allen verfügbaren Kräften auf den Straßen, um bei möglichen Rangeleien einzuschreiten. Einige Beamte verteilten Rosen an die weiblichen Neulinge. „Allen Männern sage ich, seid höflich zu den Frauen am Steuer“, mahnte der prominente saudische Liedermacher Mohammed Abdu seine Landsleute per Video. Doch außer ein paar abfälligen Tweets war aus dem erzkonservativen Lager den ganzen Tag über nichts zu hören.

Mehr als drei Millionen Frauen könnten in den nächsten Jahren ihren Führerschein machen, schätzen die Verantwortlichen. Die Autosalons reiben sich bereits die Hände, nach Umfragen wollen sich 85 Prozent der weiblichen Führerschein-Neulinge ein eigenes Auto zulegen. Dagegen bangen Zehntausende der 1,4 Millionen ausländischen männlichen Chauffeure um ihren Job.

Einige Hundert Führerscheine an Frauen wurden in den letzten Wochen bereits ausgestellt, die fünf bisher offiziell zugelassenen Fahrschulen können sich vor Bewerberinnen kaum retten. Selbst Kurse für Harley-Davidson-Motorräder sind im Angebot.

Viele Frauen dagegen brauchen keine Fahrstunden zu nehmen. Sie können ihre in den USA, Großbritannien, den Emiraten oder Jordanien ausgestellten Dokumente nach einem kurzen Praxistest direkt umschreiben lassen. „Jetzt kann ich endlich meine Kinder selbst zur Schule bringen“, freute sich Sarah Alwassia in der Hafenstadt Dschidda. Sie habe schon als 18-Jährige in den Vereinigten Staaten den Führerschein gemacht, sagte die Mutter zweier Töchter. „Ich kann es immer noch nicht fassen – endlich ist der Tag gekommen, an dem ich auch in meiner Heimatstadt fahren kann.“ Unabhängig zu sein, sei ein großes Thema für sie persönlich, bekräftigte sie und fügte hinzu, das Autofahren sei dabei nur einer von vielen Aspekten.

In das gleiche Horn stieß von fern auch die bekannte Frauenrechtlerin Hala Aldosari, die ein Stipendium an der Harvard-Universität hat und derzeit in Boston lebt. „Die Freude, das Selbstvertrauen und der Stolz der saudischen Frauen, die zum ersten Mal Auto fahren, ohne Angst, verhaftet zu werden, treiben mir die Tränen in die Augen“, twitterte sie. Sie sei froh und erleichtert, „dass saudische Mädchen künftig etwas freier leben können als ihr Mütter“.

Aldosari gehörte zu einer Handvoll Frauen, die sich bereits 2013 für das Recht auf Autofahren ans Steuer wagten. Zusammen mit der kürzlich verhafteten Aziza al-Yousef verfasste sie ein Jahr später eine Petition an König Salman, für die 14.682 Unterschriften zusammenkamen. Der Text, der damals Schlagzeilen rund um den Globus machte, forderte ein Ende des männlichen Vormundschaftsrechtes. Denn in praktisch allen Lebensbereichen haben Väter, Ehemänner, Onkel oder Söhne uneingeschränkt das Sagen. Zwar wurden einige Bestimmungen der drakonischen Vorschriften in letzter Zeit etwas gelockert. Doch nach wie vor dürfen Frauen nicht ohne Einwilligung ihres männlichen Vormunds heiraten, ein Studium beginnen oder reisen, einen Pass beantragen oder sich einem medizinischen Eingriff unterziehen.

Der Kronprinz lässt Aktivistinnen verhaften

Heute gehört Aziza al-Yousef zusammen mit Eman al-Nafjan und Loujain al-Hathloul zu den prominenten Frauenrechtlerinnen, die Kronprinz Mohammed bin Salman im Vorfeld des ersten Frauenfahrtages festnehmen und durch eine Schmutzkampagne regierungstreuer Medien verunglimpfen ließ. Zeitungen druckten ihre Fotos mit dem roten Stempel „Verräter“ quer über dem Gesicht. Sieben der 19 Verfolgten wurden inzwischen auf freien Fuß gesetzt, auch die 70-jährige Veteranin im Kampf um das Lenkrad, Aisha al-Mana, die an den Folgen eines Schlaganfalls leidet.

Die staatliche Unterdrückung aber geht unvermindert weiter. Auch letzte Woche wurden wieder zwei Aktivistinnen aus ihren Wohnungen geholt, weil sie sich auf Facebook für die Angeprangerten eingesetzt hatten. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft haben vier Frauen und fünf Männer inzwischen gestanden, „mit Einzelpersonen und Organisationen kommuniziert und kooperiert zu haben, die dem Königreich feindlich gesinnt sind“. Sie sollen vor ein Spezialgericht für Terrortaten gestellt werden.

Kommentatoren bezichtigten die Verhafteten, unentschuldbare Verbrechen begangen zu haben und Agenten ausländischer Botschaften zu sein. „Wer immer das Heimatland für eine Handvoll Geld verscherbelt, hat keinen Platz unter uns“, hieß es in Hetzartikeln. Andere forderten, alle mit dem Schwert hinzurichten. Die Botschaft ist klar: Bürgerrechte in Saudi-Arabien werden von oben gewährt und nicht von unten erkämpft. Politischer Aktivismus und offene Reformdebatten sind tabu in der absolutistischen Monarchie.

Und so rief ihre prominente Mitkämpferin und Bürgerrechtlerin Hala Aldosari am Sonntag von ihrem amerikanischen Exil aus die weibliche Bevölkerung daheim auf, in ihrem Jubel für eine Minute innezuhalten und an die „starken und noblen Frauen und Männer“ zu denken, die den Weg für diesen Augenblick geebnet hätten. „Ohne ihre Stimmen, ihren Mut und ihre Aktionen wären diese Restriktionen, denen Frauen ausgesetzt sind, niemals öffentlich gemacht, infrage gestellt oder angepackt worden“, twitterte sie. „Diese Menschen sind das Herz und die Seele der Nation. Sie sind niemals Verräter.“