Brüssel.

Vor dem Asylgipfel am Sonntag in Brüssel macht die Kanzlerin, was sie vor wichtigen Treffen gern tut: Sie dämpft die Erwartungen. Es handele sich „um nicht mehr und nicht weniger als ein Beratungs- und Arbeitstreffen“, erklärte Angela Merkel am Freitag,

Formal hat die Kanzlerin recht. Entscheidungen für die EU-Ebene kann die auf Merkels Bitte vom Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker einberufene Runde gar nicht treffen, dafür ist der offizielle EU-Gipfel vier Tage später zuständig. Und doch geht es am Sonntag um viel für Europa: Sollte die Regierung des größten und wichtigsten EU-Landes ausgerechnet jetzt zerbrechen, würde das die gesamte EU in Turbulenzen stürzen.

Allen ist klar, was auf dem Spiel steht: 17 Regierungschefs hatten sich bis Freitagnachmittag zu dem Krisentreffen angemeldet. Zum ursprünglichen Kreis aus Deutschland, Italien, Griechenland, Spanien, Bulgarien, Malta, Österreich und Frankreich stoßen nun Belgien, die Niederlande, Dänemark, Kroatien, Slowenien, Finnland, Schweden, Luxemburg und Litauen hinzu.

Ob das unerwartet große Format der Kanzlerin hilft, ist indes unklar: Eigentlich sollte das Asyltreffen aus Merkels Sicht ja vor allem Abkommen mit wenigen ausgesuchten EU-Ländern vorbereiten. Merkel will so den Weg ebnen für die Zurückweisung bereits anderswo registrierter Flüchtlinge an der deutschen Grenze – geordnet und im Einverständnis mit den Aufnahmeländern wie Italien oder Griechenland. So hätte Merkel den Konflikt mit der CSU entschärft. Aber geht der Plan auf? Vor dem Asylgipfel ist die Lage unübersichtlich:

Italien: Das größte Hindernis für einen Durchbruch ist die neue Regierung in Rom. Innenminister Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega bekräftigte am Freitag die Absage an die Aufnahme von Asylsuchenden, die in andere EU-Länder weitergereist sind. Italien könne „keinen Einzigen“ mehr aufnehmen, sondern wolle Asylbewerber abgeben. Salvini würde für diese Position auch den Sturz der Kanzlerin in Kauf nehmen, wie er dem „Spiegel“ sagte. Doch steckt dahinter auch innenpolitische Kraftmeierei. Merkels Hoffnung ist, dass sich Ministerpräsident Giuseppe Conte umstimmen lässt – womöglich mit Kompromissbereitschaft bei anderen politischen Fragen, auf jeden Fall mit der Garantie, dass auch Italien beim Flüchtlingsproblem entlastet wird. Zu den Lösungsvorschlägen gehört die ins Auge gefasste Umleitung von Mittelmeer-Bootsflüchtlingen in Länder außerhalb der EU. Mehr Geld soll es auch geben. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger suchte am Freitag fieberhaft nach Reserven im aktuellen EU-Budget, um vor allem Italien und Griechenland ein großzügiges finanzielles Hilfsangebot zu machen, das die Flüchtlingslasten ausgleichen soll. In der Not ist plötzlich vieles möglich: Im Gespräch ist etwa, dass die EU sich an den Personalkosten des italienischen Grenzschutzes beteiligt.

Frankreich: Auf Präsident Emmanuel Macron kann Merkel zählen. Er hat der Kanzlerin bereits zugesagt, in Frankreich registrierte Flüchtlinge aus Deutschland zurückzunehmen. Frankreich hat ja längst mit Italien eine solche Vereinbarung zur Zurückweisung geschlossen. Und: Macron braucht umgekehrt die Unterstützung Merkels, etwa für seine europäischen Reformpläne.

Österreich: Kanzler Sebastian Kurz sieht jetzt die Chance, die von ihm geforderte Wende in der europäischen Asylpolitik zu erreichen. Auf ­EU-Ebene will er vor allem stärkeren Grenzschutz und Sammellager für Asylbewerber außerhalb Europas durchsetzen, damit es Flüchtlinge erst gar nicht in die Europäische Union schaffen. Nationale Alleingänge sieht er kritisch. Aber verweigern würde sich Kurz am Ende wohl nicht, Österreich würde gegebenenfalls seine eigene Grenze zu Italien strenger kontrollieren. Zurückweisungen und schärfere Grenzkontrollen könnten eine abschreckende Wirkung haben, so das Kalkül in Österreich.

Spanien: Der neue linke Ministerpräsident Pedro Sanchez dürfte wohl bereit sein, Merkel zu helfen. Sanchez will großzügiger Flüchtlinge aufnehmen als bisher. So hatte er schon das von Italien abgewiesene Rettungsschiff „Aquarius“ in Spanien anlanden lassen. Allzu viele Asylbewerber müsste Spanien wohl nicht aus Deutschland zurücknehmen – bekäme dafür aber als Mittelmeeranrainer neue Hilfen aus Brüssel.

Griechenland: Auf Regierungschef Alexis Tsipras kann Merkel zählen, er wird sich einer Lösung kaum verweigern. Tsipras hat Merkels Flüchtlingspolitik wiederholt gelobt. Und er könnte damit rechnen, dass Deutschland ihm an anderer Stelle entgegenkommt – mit Investitionen etwa, um die fragile wirtschaftliche Lage Griechenlands zu stabilisieren.

Es dürfte bei den entscheidenden Gesprächen helfen, dass die EU-Spitze politischen Geleitschutz gibt: Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk sind entschlossen, um die geplanten zwischenstaatlichen Abkommen herum einen großen europäischen Rahmen zu zimmern: Die Vereinbarungen zur Flüchtlingszurückweisung sollen den erklärten Segen und die Unterstützung der EU erhalten. Künftig würden Asylbewerber zudem von vornherein an Weiterreisen in andere EU-Staaten gehindert, schlägt die Kommission vor.

Zugleich scheint die EU entschlossen, verstärkt auf Abschreckung zu setzen: Neben der Idee, Sammellager für Asylbewerber etwa in Nordafrika einzurichten, geht es um einen massiven und beschleunigten Ausbau des EU-Außengrenzschutzes. Ob der neue Kurs schon am Sonntag in einen Beschluss mündet, wie ihn die EU-Kommission vorbereitet hat, war am Freitag offen. Wenn nicht, würde der Boden bereitet für Entscheidungen beim großen Gipfeltreffen am Donnerstag. Es bewegt sich viel in Brüssel. Nur ob es schnell genug geht, um Merkels Sturz zu verhindern, ist offen.