Berlin/München.

Wie beschreibt man den Zustand, wenn am eigenen Stuhl gesägt wird – und zwar nicht vom politischen Gegner, sondern von der Schwesterpartei? Angela Merkel drückte es am Montag so aus: „Ich fühle mich angespornt“. Die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende machte damit notgedrungen gute Miene zum bösen Spiel. Das Zerwürfnis zwischen CDU und CSU, zwischen Merkel und ihrem Innenminister Horst Seehofer um Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze, hatte sich in der vergangenen Woche zu einer Regierungskrise ausgeweitet. Seehofer hatte mit einem Alleingang als Minister gedroht, ein Bruch der Regierung schien möglich. Am Montag trafen sich Merkel und CSU-Chef Seehofer mit ihren Parteigremien, traten danach parallel vor die Presse. Merkel in Berlin, Seehofer in München. Da war allerdings schon klar, dass der Showdown nochmal vertagt wurde.

CDU-Gremien geben Merkel breite Rückendeckung

Merkel hatte Seehofer um Zeit für eine europäische Lösung gebeten, sie selbst brachte die Frist von zwei Wochen ins Gespräch, will den EU-Gipfel am 28. Juni in Brüssel abwarten. Nachdem über das Wochenende unterschiedliche Signale von der CSU kamen, drang um kurz nach elf Uhr aus der Vorstandssitzung, dass Seehofer Mitte der Woche zwar den Befehl erlassen will, Personen mit Einreiseverbot sofort zurückzuweisen. Das Einreiseverbot auf registrierte Flüchtlinge wolle er jedoch erst ausweiten, wenn europaweite Verhandlungen scheitern sollten. Da war nun die Frist, die Merkel gefordert hatte. Flüchtlinge zurückzuweisen, die eine Wiedereinreisesperre oder ein Aufenthaltsverbot haben, dem hatte sie bereits zugestimmt.

Die CDU-Gremien wiederum gaben Merkel am Montag breite Rückendeckung, bis zum Gipfel eine europäische Lösung zu verhandeln. Merkel strebt europäische Regeln genauso an wie bilaterale Übereinkünfte, etwa mit Italien, über die Rückführung von Flüchtlingen. Alles gut also?

Nein, es begann sofort der Streit, ob Seehofers Einlassung ein Ultimatum, eine Frist oder ein loses Zieldatum ist: In der CDU-Spitze wurde betont, dass es nach dem EU-Gipfel keinen Automatismus für eine Zurückweisung Anfang Juli geben sollte. Stattdessen wolle man am 1. Juli in den CDU-Gremien beurteilen, wie weit man gekommen sei. Warum diese Sprache für beide Seiten wichtig ist, hatte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in den vergangenen Tagen mehrfach deutlich gemacht: Er glaube nicht, dass in zwei Wochen gelingen könne, was drei Jahre lang gescheitert sei. Er setzt also auf ein Scheitern Merkels. Die Kanzlerin dagegen betonte: „Es gibt keinen Automatismus.“

Dass der Ton zwischen den Schwesterparteien nach wie vor vergiftet ist, wurde auch in den Pressekonferenzen deutlich: Merkel machte klar: Setzt der Bundesinnenminister unabgestimmt Zurückweisungen an der Grenze durch, „dann würde ich sagen, ist das eine Frage der Richtlinienkompetenz.“ Dies sei dann der Fall, wenn Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze ohne Abstimmungen mit EU-Partnern in Kraft gesetzt würden und „zu Lasten Dritter“ gingen. Es sind klare Worte Merkels an die Adresse des Bundesinnenministers: Ich kann dich auch abberufen. Für diesen Fall, so heißt es wiederum aus der CSU, würde man die CSU-Minister in der Regierung zurückziehen. Die große Koalition wäre am Ende.

Seehofer gab sich in München seinerseits überzeugt, dass die CSU den richtigen Weg beschreite. Er bekam die Rückendeckung seines Vorstands. Zu 100 Prozent. Über jeden Punkt sei einzeln abgestimmt worden, betonte er dann auch: „Es gab nicht den Hauch eines Widerspruchs.“ Er wollte von einem Aufschub nichts wissen. Man dürfe den Bürgern kein „X für ein U“ vormachen. „Es geht nicht um 14 Tage, es geht um einen grundlegenden Dissens.“ Schließlich stünden die „Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates und die Glaubwürdigkeit meiner Partei“ auf dem Spiel.

Ja, die CSU wünsche Merkel viel Erfolg bei ihrem Versuch, auf dem Gipfel eine europäische Lösung oder Abkommen mit Staaten wie Italien oder Griechenland einzufädeln, damit registrierte Flüchtlinge nicht mehr an der deutschen Grenze ankommen. Aber wenn Merkel es nicht hinbekommt, der Gipfel „keine wirkungsgleichen Ergebnisse“ zeigen sollte, „dann möchte ich die Sache in Kraft setzen können“.

Seehofer betonte, er wolle zwar zuvor mit Merkel reden („Eine Frage des Anstandes“). An seiner Entschlossenheit sollte aber niemand zweifeln. Er werde dann in der ersten Juli-Woche handeln und auch jene Flüchtlinge abweisen, die in einem anderen EU-Land bereits Asyl beantragt oder polizeilich in einer Datenbank mit Fingerabdrücken erfasst wurden. „Ich bin fest entschlossen, dass dies realisiert wird, wenn die europäischen Verhandlungen keinen Erfolg haben.“ Er gab sich ob der Drohung von Merkel entspannt: „Mir gegenüber hat sie mit der Richtlinienkompetenz nicht gewedelt.“ Die CDU akzeptiere inzwischen 62,5 seiner 63 Punkte aus dem Masterplan. Und er sei zuversichtlich, dass „das Punktekonto sich in den nächsten Tagen noch erhöht“. Doch auch in München war man nervös ob des heftigen Streits. Am Morgen war Seehofer vor der CSU-Zentrale angekommen und machte etwas ganz gegen seine Gewohnheit: Er schwieg.

Jens Spahn gefällt das Vorgehen der Kanzlerin nicht

In der CDU hatte man sich akribisch vorbereitet. Am Sonntag hatte die CDU-Vorsitzende Merkel ihren engsten Führungszirkel um sich geschart. Sieben Stunden berieten neben CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer unter anderem die CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier, Armin Laschet und Daniel Günther. Günther kam im Deutschlandtrikot zum Treffen, zunächst wurde gemeinsam das Fußballspiel Deutschland gegen Mexiko angeschaut. Doch auch das brachte keine wirkliche Freude. Der CDU-Führungszirkel ist mächtig sauer. Es wird als Unverschämtheit empfunden, dass der Innenminister der Union mit seinem Masterplan eine Debatte aufdrückt, ohne dass die Politiker diesen lesen dürfen. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet beklagte, dass die CSU-Linie „kein fairer Umgang mit dem Partner“ sei.

Als Merkel am Montagmorgen dann im Präsidium ihre Position vorträgt, nicht von der europäischen Lösung abzuweichen, erhält sie Unterstützung. „Fast alle waren auf Merkels Seite“, sagte ein Teilnehmer danach. Nur Gesundheitsminister Jens Spahn wollte dem Vernehmen nach der Kanzlerin nicht auf ihrem Weg folgen. Doch es streitet auch niemand das Gefühl von Bestürzung ob des Machtkampfes ab: Wer denn der politische Gewinner des Streits sei? Die Antwort kommt schnell: „Die Union auf jeden Fall nicht“, sagt ein hochrangiges Präsidiumsmitglied. Doch Merkel habe Führungsstärke bewiesen, den Kopf nicht in den Sand gesteckt, sondern sich selbst unter Zugzwang gesetzt, meinte einer ihrer Kritiker.

So hat sich Merkel zumindest im Unions-internen Konflikt eine kurze Atempause verschafft, auch wenn die SPD prompt einen Koalitionsausschuss noch vor dem Europäischen Rat forderte. Einer verfolgte das Hickhack in der Union mit Interesse: US-Präsident Donald Trump twitterte: „Es war ein großer Fehler in ganz Europa, Millionen von Menschen hereinzulassen, die die Kultur so stark und gewaltsam verändert haben.“ Trump dürfte der CSU aus dem Herzen sprechen. Der Kanzlerin wird Trump sowieso nicht mehr sympathisch.