Berlin.

Achim Steiner leitet seit 2017 das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Er verfolgt die europäische Flüchtlingsdebatte intensiv. Im Interview mit dieser Zeitung lobt er Merkels Politik der offenen Grenzen und warnt vor nationalen Alleingängen.

Herr Steiner, Deutschland streitet über den richtigen Umgang mit Flüchtlingen. Die Kanzlerin steht massiv unter Druck. War ihre Politik der offenen Grenzen 2015 richtig?

Achim Steiner: In meiner Position ist es nicht angemessen, sich in diese tagespolitische Bewertung dieser Entscheidung direkt einzubringen. Aber Deutschland hat sich 2015 in einer Weise für das Prinzip der Humanität eingesetzt, die es zu einem beispielhaften Land in der internationalen Gemeinschaft gemacht hat. Die Herausforderungen, die im Nachhinein aufgetreten sind, haben jedoch zu Spannungen geführt. Aber Deutschland kann stolz sein, sich für etwas eingesetzt zu haben, was vor einigen Jahrzehnten vielen Deutschen geholfen hat – das international verbriefte Recht auf Schutz und Aufnahme bei der Flucht vor Kriegen.

... für das sich nicht mehr alle europäischen Länder einsetzen …

Länder, die sich von diesem Recht verabschieden, tun dies natürlich erst einmal vor einem innenpolitischen Hintergrund. Aber wir müssen uns vor Augen führen, dass wir einen Teil der internationalen Rechtsordnung verlieren, wenn wir uns von diesem Prinzip verabschieden. Wir verlieren dann vor allem auch den Anspruch, dass uns dieses Recht weiterhin zusteht.

Derzeit geht es in der deutschen Debatte aber vielmehr um Abwehr von Flüchtlingen, Abschiebung und um das Thema Sicherheit. Haben Sie dafür Verständnis?

In gewisser Hinsicht ja. Wir können uns nicht einfach über diese Diskussionen hinwegsetzen. Sie sind in der Wahrnehmung der Menschen eine Realität. Man kann zwar mit Zahlen und Statistiken argumentieren. Aber wenn in einer Gesellschaft erst einmal der Eindruck entsteht, hier ist etwas im Gange, was ich nicht nachvollziehen kann und daher nicht unterstütze, dann ist es Aufgabe der Politik, diese Diskussion aufgrund von Fakten zu führen, aber auch mit einem Verständnis für die Beweggründe, weshalb Menschen das empfinden.

Sie haben Verständnis für Nationalismus oder Flüchtlingsfeindlichkeit?

Absolut nicht. Aber wenn die Politik dieser Diskussion ausweicht, leugnet sie das, was um uns herum geschieht. Es mag nicht das sein, was wir uns wünschen. Aber ich glaube, der beste Weg heraus aus der Vorstellung, dass uns Migration bedroht, ist, diese Diskussion offensiv zu führen. Rein statistisch wäre es absurd anzunehmen, wir können die Zahl der Flüchtlinge, die wir aufgenommen haben, nicht in unserem Land bewältigen. Aber das ändert nichts an der subjektiven Wahrnehmung einiger Menschen, dass sie die Verlierer und die Flüchtlinge die Gewinner sind. Unter diesen Vorzeichen wird auch in Teilen der Politik die Diskussion sehr manipulativ geführt.

Manche osteuropäische Länder weigern sich schon länger, Flüchtlinge aufzunehmen, jetzt plädieren Österreich und Italien für eine Abwehr von Flüchtlingen schon vor den Grenzen der EU. Sind Sie enttäuscht?

Ich glaube, Europa enttäuscht sich gerade selbst. Es ist ja ein Grundgedanke, dass wir durch gemeinsames Handeln Krisen besser bewältigen können. Die Flüchtlingsströme der letzten Jahre haben uns in Europa auch deshalb stark unter Druck gesetzt, weil wir feststellen mussten, dass dieser Grundgedanke zwar im Prinzip noch eine Leitplanke ist, aber in der realpolitischen Umsetzung, sehr stark unter die Räder kommen kann. Das hat auch dazu geführt, dass wir in sehr krasser Weise beobachten können, was es bedeutet, wenn die EU nicht als Ganzes handelt. Dann müssen nämlich einzelne Länder einen viel höheren Beitrag leisten und einen viel höheren Druck aushalten. Das ist kein gutes Vorzeichen für die Art und Weise, wie wir in Europa in den kommenden Jahren mit den großen Veränderungen um uns herum umgehen werden.

Europa redet über die Grenzsicherung, die Unterbringung von Flüchtlingen außerhalb der EU, weniger über die Bekämpfung von Fluchtursachen. Ist der Eindruck richtig?

Wir haben in den vergangenen Jahren in der Diskussion schon erlebt, dass der Reflex, die Grenzen zu sichern, in den Vordergrund getreten ist. Das ist aber mehr ein Phänomen der Tagespolitik. Im Hintergrund hat gerade die Politik Deutschlands mit dazu beigetragen, dass wir uns viel stärker mit der Frage auseinandersetzen, wie wir Fluchtursachen bekämpfen können und wie wir über Entwicklungszusammenarbeit den Druck auf Menschen verringern, ihre Heimat verlassen zu müssen.