Brüssel. Im „Fischstäbchen-Skandal“ eilt die EU-Kommission Ungarn und anderen Staaten zu Hilfe und leitet europaweite Testkampagne ein

    Sie sprechen vom „Fischstäbchen-Skandal“, schimpfen über „Lebensmittelmüll“ und klagen über doppelte Standards: Die Regierungen osteuropäischer EU-Staaten werfen Lebensmittelkonzernen vor, in ihren Ländern Produkte in schlechterer Qualität anzubieten als im Westen. Fischstäbchen enthielten im Osten weniger Fisch, Kekse weniger Butter, der Schokocreme fehle es an Cremigkeit.

    Jetzt versucht die EU-Kommission mit großem Aufwand, die Vorwürfe zu klären: In einer europaweiten Testkampagne sollen Experten in den nächsten Monaten entsprechende Lebensmittel in Labors untersuchen und vergleichen. Ein Lebensmittel-Forschungsinstitut der EU-Kommission koordiniert die Aktion, beteiligte Fachleute nationaler Behörden haben einen klaren Auftrag: Sie sollen „das Ausmaß der Verbreitung von zweierlei Qualität datenmäßig erfassen“ – und zugleich eine einheitliche Vergleichsmethode testen, die eigens für diesen Zweck entwickelt wurde. „Auf dem Binnenmarkt darf es nicht zweierlei Standards geben“, sagt Verbraucherkommissarin Vera Jourova zum Start des ungewöhnlichen Projekts. „Alle Bürger in der EU müssen spüren können, dass sie gleich behandelt werden.“

    Zeitgleich wird gegen Polen Sanktionsverfahren forciert

    Genau daran gibt es in einigen osteuropäischen Ländern ohnehin Zweifel, der „Fischstäbchens-Skandal“ scheint den Eindruck zu bestätigen. Die Klagen sind durchaus eindrucksvoll: In Prag etwa stützt sich die Regierung auf eine Studie, nach der von 21 Produkten mit der gleichen Verpackung in Tschechien und Deutschland nur drei tatsächlich den gleichen Inhalt hatten. Fischstäbchen in Tschechien zum Beispiel enthielten sieben Prozent weniger Fisch, waren aber trotzdem teurer als im Nachbarland.

    Das slowakische Landwirtschaftsministerium ließ 22 Produkte identischer Marken in Österreich und der Slowakei testen, bei der Hälfte ergab sich demnach eine schlechtere Qualität auf dem heimischen Markt. Im Teebeutel war weniger Tee, im Schinken weniger Fleisch. Und aus Polen kam die Klage, der deutsche Butterkeks enthalte in Warschau weniger Butter als in Berlin. In einer Untersuchung in Ungarn wurden vergangenes Jahr bei zwei Drittel von 50 getesteten Produkten Qualitätsabweichungen festgestellt. „Unsere Verbraucher werden als zweitrangig abqualifiziert“, wettert Premier Viktor Orban.

    Die betroffenen Hersteller wehren sich zumeist: Sie kritisieren die Testmethoden oder begründen Abweichungen mit national unterschiedlichen Vorschriften. Und mit regionalen Verbrauchervorlieben, die durch Marktforschung ermittelt werden. Muss die Schokocreme für dickes Roggenbrot in Ungarn nicht fester sein als für rasch bröckelnde Croissants in Frankreich? Wegen solcher Einwände wurden die Klagen aus dem Osten in Brüssel anfangs eher belächelt. Erst als die osteuropäischen Regierungen gemeinsam Druck machten und immer mehr Beispiele lieferten, wurde die politische Dimension verstanden. Inzwischen ist klar: Zumindest ein Teil der Vorwürfe ist berechtigt, auch wenn noch immer eine solide Datenbasis fehlt.

    Wird der Streit zum Symbol, wie das westliche Europa östlichen Sorgen mit Ignoranz begegnet? Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Sprengkraft erkannte, leitete er persönlich die Wende ein: „Ich kann nicht akzeptieren, dass den Menschen in manchen Teilen Europas, vornehmlich in Mittel- und Osteuropa, qualitativ schlechtere Lebensmittel verkauft werden als in anderen, obwohl Verpackung und Markenzeichen identisch sind“, empörte er sich vor dem EU-Parlament. „Slowaken haben nicht weniger Fisch in Fischstäbchen verdient. Ungarn nicht weniger Fleisch in Fleischgerichten.“

    Seitdem arbeitet die Kommission an Abhilfe, obwohl sie nur begrenzt verantwortlich ist. In neuen Leitlinien stellen Junckers Beamte klar, dass es nationale Behörden als irreführende Geschäftspraktik ahnden können, wenn Hersteller ihre Produkte in mehreren Mitgliedstaaten als identisch vermarkten, obwohl sich die Zusammensetzung unterscheidet. Für eine Million Euro ließ die Kommission eine einheitliche Methode für Vergleichsprüfungen von Lebensmitteln entwickeln. Die soll jetzt in der Testkampagne, an der sich die EU-Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis beteiligen sollen, erstmals angewendet werden.

    „Die Verbraucher dürfen nicht durch identische Verpackungen irregeführt werden“, stellt Kommissarin Jourova klar. Alle nationalen Behörden seien zur Teilnahme an der Testkampagne aufgerufen, „damit wir diesen Missstand abstellen können.“ Erste Ergebnisse sollen Ende des Jahres vorliegen. Die EU-Kommission hat ein Ziel schon erreicht: Sie hat den Osteuropäern demonstriert, dass sie ihre Beschwerden ernst nimmt und sich kümmert.

    Ist es Zufall, dass die Botschaft von der „Union der Gleichen“ gerade jetzt bekräftigt wird? Verständnis hier, klare Kante dort: Zeitgleich treibt die Kommission das Sanktionsverfahren gegen Polen voran, der Streit um die Justizreform spitzt sich zu. Am Montag reist Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans noch einmal nach Warschau, um die Regierung zum Einlenken zu bewegen, doch wird bereits die offizielle Anhörung Polens in Brüssel vorbereitet – der nächste Schritt in einem Verfahren, das mit dem Entzug der Stimmrechte Polens in der EU enden könnte. Kommission und EU-Parlament beunruhigt besonders, dass das umstrittene Gesetz zur Zwangspensionierung oberster Richter bereits am 3. Juli in Kraft treten soll. Die bisherigen Zugeständnisse Warschaus reichen aus Brüsseler Sicht nicht aus. Doch die polnische Regierung bekräftigte, dass sie keinen Rückzieher machen wird und die Reformen zu Ende führen will. Im Fischstäbchen-Skandal ist die Brüsseler Intervention dringend erwünscht – in Rechtsstaatsfragen verbittet sich Warschau jede Einmischung.