Berlin.

Hunderte fragwürdige Asylbescheide in der Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) haben neue Zweifel an der Asylpolitik der Bundesregierung gesät. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner pocht auf parlamentarische Aufklärung – und sucht nach neuen Mehrheiten.

Sie dringen auf einen Asyl-Untersuchungsausschuss. Wollen Sie Angela Merkel jagen, Herr Lindner?

Christian Lindner: Es geht nicht um Frau Merkel. Es geht um den sozialen Zusammenhalt in unserem Land. Wer die Gesellschaft befrieden will, der hängt nicht Kreuze an die Wand wie die CSU oder verbreitet Parolen, sondern sorgt für einen handlungsfähigen Rechtsstaat. Gerade in der Einwanderungspolitik haben wir noch enorm viel zu tun – sowohl beim Management als auch bei den gesetzlichen Grundlagen.

Sie zielen nicht nur auf das Flüchtlingsamt Bamf, sondern auf die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin insgesamt ...

Es hat ein zuvor nicht vorstellbares Organisationsversagen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gegeben. Die politische Leitidee, der die Asyl-Entscheider folgten, war – wie Innenminister Seehofer sagt – Schnelligkeit vor Gründlichkeit. Das muss mit aufgeklärt werden. Wir wollen aber keine rückwärtsgewandte Debatte, sondern Lehren für die Zukunft ziehen, damit sich eine Krise wie 2015 nicht wiederholt. Die Menschen sollen Vertrauen zurückgewinnen.

Wer trägt die Hauptverantwortung für den Bamf-Skandal um falsche Asylbescheide?

Ich vermute eher ein Systemversagen. Wir werden jedenfalls nicht allein untersuchen, warum die Sachbearbeiter des Bamf in ihrer Überforderung falsche Asylbescheide ausgestellt haben. Wir werden die Großen – die Flüchtlingskoordinatoren mit ihren Dienstwagen – nicht aus der Verantwortung lassen.

Sprechen Sie vom damaligen Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier?

Auch dessen Rolle ist zu hinterfragen. Was wurde uns damals alles erzählt. Und wie sehr entfernt davon war die Realität, wie man nun annehmen muss.

Grüne und Linke sperren sich bisher gegen einen Untersuchungsausschuss – auch weil sie nicht gemeinsame Sache mit der AfD machen wollen. Überrascht Sie das?

Ja. Bei so einem Vorgang ist die Aufklärung mit allen Mitteln eine Selbstverständlichkeit. Es ist daher nicht überraschend, dass FDP und AfD auf einen Untersuchungsausschuss drängen. Freilich haben die und wir ganz andere Motive und Fragen. Grüne und Linke sind schon 2013 bis 2017 als Opposition ausgefallen. Ohne die FDP würde der Eindruck entstehen, nur die AfD wolle die Regierung kontrollieren. Das lassen wir nicht zu.

Sie selbst haben noch im Dezember gesagt: „Mit der AfD ergreifen wir keine Initiativen. Wir werden auch keine Initiativen in den Bundestag einbringen, die nur dann umgesetzt werden können, wenn die AfD den Ausschlag geben sollte.“ Warum gilt das nicht mehr?

Es gilt doch noch. Wir verhandeln nicht mit der AfD – und nur mit ihr kommt kein Beschluss zustande. Allerdings können wir nicht darauf verzichten, das Richtige zu fordern, nur weil die Falschen zustimmen. Unser Ziel ist, Verschwörungstheoretikern die Grundlage zu entziehen und das Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken. Der AfD geht es darum, das Vertrauen in den Rechtsstaat restlos zu zerstören. Ich würde daher begrüßen, wenn ein Untersuchungsausschuss von allen staatstragenden Parteien gemeinsam eingerichtet werden könnte: CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP.

Danach sieht es nicht aus.

Es fehlt der Mut. Unsere Mitbewerber treffen viele Entscheidungen aus Angst vor der AfD. Das ist eine Obsession geworden, die auch manche Medien erfasst hat. Wir machen da nicht mit.

Wen können Sie noch überzeugen?

Das wird sich zeigen. Die Bürgerinnen und Bürger, die mit großer Mehrheit die Untersuchung befürworten, werden ihr Urteil bilden. Grüne und Linke sind in der Frage intern zerstritten, die SPD ist ebenfalls uneins. Die FDP macht das Angebot, ganz schnell mit anderen Fraktionen zu verhandeln über einen Untersuchungsauftrag. Wir haben einen seriösen Vorschlag gemacht. Ich bin bereit, sofort drei Tage und Nächte etwa mit den Grünen zu verhandeln über einen gemeinsamen Untersuchungsauftrag. Der Beschluss kann schon in der nächsten Sitzungswoche des Bundestages fallen.

Ist Deutschland unsicherer geworden seit der Flüchtlingskrise?

Das kann man nicht pauschal sagen. Gewiss aber leidet das Sicherheitsgefühl. Das allein reicht, weil es Ängste verursacht.

Wie ordnen Sie Fälle wie jetzt die Ermordung der 14-jährigen Susanna in Wiesbaden ein, die der Jüdischen Gemeinde angehörte? Dringend tatverdächtig ist ein abgelehnter, polizeibekannter Asylbewerber aus dem Irak ...

Eine schreckliche Tat. Der Rechtsstaat muss das aufklären. Die Frage ist, warum sich ein ausreisepflichtiger Mann mit Gefährderpotenzial überhaupt frei bewegen konnte. Wir sagen schon seit Längerem, dass Deutschland eine Neuordnung bei der Einwanderungs- und Migrationspolitik braucht. Dazu gehört auch eine konsequentere Haltung, wenn es um die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern geht.

Die gesamte Familie des Tatverdächtigen konnte sich in den Irak absetzen. Was ist da schiefgelaufen?

Auch dies muss aufgeklärt werden. Wir müssen wissen, wer sich als Asylbewerber in unserem Land aufhält und wer es gegebenenfalls auch verlässt.

Es hat vergleichbare Mordfälle in Kandel und in Freiburg gegeben. Wie wirkt sich das auf das Klima in unserer Gesellschaft aus?

Es gibt ohne Zweifel die berechtigte Erwartung, dass der Staat wieder handlungsfähig wird. Die Ungeduld wächst.

Innenminister Horst Seehofer will in der kommenden Woche seinen „Masterplan Abschiebungen“ vorstellen. Im Zentrum stehen sogenannte Ankerzentren, in denen Bewerber das gesamte Asylverfahren durchlaufen sollen. Sperren sich die Bundesländer, in denen die FDP mitregiert, dagegen?

Wieso sollten wir? Eine vergleichbare Idee haben wir vor der Bundestagswahl in die Debatte eingebracht. Wir sind im Prinzip Unterstützer der Idee, alle Beteiligten an einem Asylverfahren an einer Stelle zu konzentrieren – und abgelehnte Asylbewerber von dort aus in die alte Heimat zurückzuführen. Manche Bundesländer haben aber organisatorische Alternativen. Der FDP-Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen hat übrigens bessere Zahlen bei der Abschiebung als der CSU-Innenminister von Bayern. Warum sollte NRW jetzt alles ganz anders machen? Ich rate Herrn Seehofer, rasch einen Migrationsgipfel von Bund, Ländern und Gemeinden einzuberufen ...

... der was bewirken soll?

Das Einwanderungsrecht gehört dabei genauso auf die Tagesordnung wie das Flüchtlingsmanagement. Zudem erwarten wir von den Grünen, dass sie endlich ihren Widerstand gegen weitere sichere Herkunftsländer etwa in Nordafrika aufgeben. Für besonders sensible Gruppen aus diesen Ländern kann man Ausnahmen machen. Das betrifft dann aber nur zwei, drei Prozent der Fälle.

Seehofer will Flüchtlinge, die schon in einem anderen EU-Staat registriert sind, an der deutschen Grenze zurückweisen. Unterstützen Sie das?

Natürlich und ebenfalls schon lange. Das ist europäisches Recht, das Deutschland seit 2015 nicht mehr anwendet. Selbstverständlich müssen wir zu den Regeln von Dublin zurückkehren. Das ist auch eine Voraussetzung dafür, dass wir uns auf Grenzkontrollen an den Außengrenze der EU verlassen können. Ich warne allerdings vor einem deutschen Alleingang. Wir können nicht ohne Absprache mit anderen in Europa zum alten Recht zurückkehren. Italien, das ohnehin in einer schwierigen Lage ist, wäre als Mittelmeer-Anrainer besonderen Belastungen ausgesetzt. Italien müsste eine Unterstützung erhalten.

Wie sollen Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden, wenn es dort keine Kontrollen gibt?

Bis 2015 hat das funktioniert, dafür braucht man keinen Schlagbaum. Die Bundespolizei hat Asylbewerber zurückgewiesen, die aus einem sicheren Drittland kamen. Ich nehme wahr, dass die Bundespolizei dringend darauf wartet, das wieder zu dürfen.