Düsseldorf/Solingen.

Als Armin Laschet die Familie Genc kennenlernen wollte, wusste der CDU-Politiker zunächst nicht so recht, wie er das anstellen sollte. Mehr als zehn Jahre ist das nun schon her. Der heutige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens war damals Integrationsminister und fühlte sich als solcher verpflichtet, Kontakt zu der türkischstämmigen Familie aus Solingen aufzunehmen. Durmus und Mevlüde Genc hatten am 29. Mai 1993 beim von vier rechtsextremen Jugendlichen verübten Brandanschlag auf ihr Haus fünf Familienmitglieder verloren – es war das schlimmste fremdenfeindliche Verbrechen in der Nachkriegsgeschichte des Bundeslandes.

Laschet fragte seinen alten Freund, den Grünen-Politiker Cem Özdemir, um Rat. Der habe gesagt: „Ich rufe für dich dort an, und du fährst dann nach Solingen und ziehst dir vor der Wohnungstür die Schuhe aus.“ So erzählt es Laschet am Dienstag beim Gedenkakt zum 25. Jahrestag des Solinger Brandanschlags in der Düsseldorfer Staatskanzlei. Aus dieser holprigen Erstbegegnung wuchs eine besondere Beziehung, die auch dem Zeremoniell am Dienstag über manche Schwierigkeiten hinweghilft. „Sie sind uns ein Vorbild“, sagt Laschet zu Mevlüde Genc. Die inzwischen 75-Jährige wurde mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, weil sie sich trotz des Schmerzes über den Tod ihrer Kinder nie dem Hass hingegeben hat.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die eigens für diese Gedenkstunde per Hubschrauber in den Rheinwiesen abgesetzt werden muss, betont: „Auf eine unmenschliche Tat haben Sie mit menschlicher Größe reagiert. Dafür bewundern wir Sie.“ Merkel warnt vor Tabubrüchen von Rechtspopulisten. Sie könnten in neue Gewalt ausarten. Rechtsextremismus gehöre keineswegs der Vergangenheit an.

„Zu oft werden die Grenzen der Meinungsfreiheit sehr kalkuliert ausgetestet und Tabubrüche leichtfertig als politisches Instrument eingesetzt“, betont die Kanzlerin, ohne die rechtspopulistische AfD zu nennen. Dies sei ein Spiel mit dem Feuer: „Denn wer mit Worten Gewalt sät, nimmt zumindest billigend in Kauf, dass auch Gewalt geerntet wird.“ Menschen würden angefeindet und angegriffen, weil sie Asylbewerber oder Flüchtlinge seien oder weil sie dafür gehalten würden, sagt Merkel im Beisein des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu. „Solche Gewalttaten sind beschämend. Sie sind eine Schande für unser Land.“

Mevlüde Genc sagt, sie habe sich immer nur gewünscht, dass ihre Kinder in Deutschland aufwachsen wie alle anderen und dass „der Hass nicht Eingang findet in ihre Herzen“. Sie nennt den Ministerpräsidenten „Bruder Laschet“. 2008 war er sogar ins Heimatdorf der Familie in der türkischen Provinz Amasya gereist und hat an den Gräbern der Kinder gestanden. Vertraut stützt der Ministerpräsident Mevlüde Genc beim Gang zum Rednerpult oder nestelt ihr den Dolmetscher-Kopfhörer über das Kopftuch.

Laschet verkündet die künftige Verleihung einer „Mevlüde-Genc-Medaille“ für Versöhnung. Mit 10.000 Euro soll die neue Ehrung dotiert sein. Der Ministerpräsident hat auch eigens einen Satz auf Türkisch einstudiert: „Liebe lässt den Menschen leben“ – ein Zitat von Mevlüde Genc.

Szenen wie diese lassen die widrigen Begleitumstände einer am Ende irgendwie doch würdigen Gedenkfeier fast vergessen. Laschet hat einige Dutzend Ehrengäste, sein Kabinett, das Landtagspräsidium, das „Turkish Chamber Orchestra“ und ein stattliches Medienaufgebot ausgerechnet im geduckten Dachzimmer seiner Staatskanzlei zusammengebracht. Es ist eng und ungeheuer warm, eigentlich ein unmögliches Arrangement.

Laschet wollte die Gedenkfeier ursprünglich im Landtag abhalten. Doch hatte er die Opposition offenkundig mit dem Plan überfahren, dort auch den türkischen Außenminister Cavusoglu sprechen zu lassen. Einen solchen Auftritt eines Mitglieds der Regierung Erdogan im „Hohen Haus der Demokratie“ fanden SPD und Grüne unangemessen. Deshalb musste die Staatskanzlei improvisieren.

Cavusoglu lässt sich am Ende in Düsseldorf jedoch nicht einmal ansatzweise zu einer Wahlkampfrede an die in NRW lebenden Türken hinreißen. Der einzige Grund für seine Teilnahme an der Gedenkfeier sei „eine Botschaft des Zusammenhalts“, sagt er. Deutsche und Türken müssten „in Einheit der Plage des Rassismus entgegenstehen“. Er weist zudem auf die Mordserie der rechten Terrorgruppe NSU hin und sprach sich dafür aus, die Hintergründe insgesamt auszuleuchten. Cavusoglu rühmt seinen Gastgeber: „Wir haben gespürt, dass Herr Laschet die Familie Genc als seine Geschwister ansieht.“

Die anschließende Gedenkfeier in Solingen wird dann wegen eines heftigen Gewitters abgebrochen. Außenminister Heiko Maas (SPD) und der türkische Außenminister können dadurch ihre Reden nicht mehr halten.