Berlin. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie warnt: Ändert sich nichts am Pflegenotstand, wird der Ruf nach assistiertem Suizid lauter

    Rund 30 Prozent der mehr als 500.000 Diakonie-Angestellten arbeiten in der Pflege. Damit gehört der kirchliche Sozialkonzern zu den wichtigsten Anbietern der Branche. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie (60) hat als Seelsorger Jahre lang selbst in einem Düsseldorfer Krankenhaus gearbeitet. Der Theologe ist entsetzt über das Lohndumping in der Pflege – und er kritisiert, wie verantwortungslos die Politik mit alten Menschen in ihrer letzten Lebensphase umgeht.

    Zu wenig Pflegekräfte, zu wenig Geld, zu schlechte Versorgung – die Pflegebranche ist seit Jahren ein politisches Krisenthema. Warum tut sich so wenig?

    Ulrich Lilie: Das Thema ist in seiner Tragweite noch nicht bei allen angekommen. Wir müssen uns in unserer Gesellschaft darüber verständigen, was uns das vierte Gebot eigentlich noch wert ist: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Was sind wir bereit aufzubringen, damit unsere Eltern und Großeltern in Würde im hohen Alter leben können?

    Der Pflegeberuf ist den tatsächlichen Aufgaben nicht gewachsen?

    Der Pflegeberuf muss weiterentwickelt werden. Pflege wird immer anspruchsvoller, die Krankheitsbilder immer komplizierter. Nicht nur in Norwegen ist die Pflege zum akademischen Beruf geworden. Dort wird der Pflegeberuf neben der besseren Qualifikation ganz anders bezahlt und genießt ein viel höheres gesellschaftliches Ansehen. Norwegen ist ein Vorbild: Wie dort sollten auch hier akademisch ausgebildete Pflegekräfte wie Ingenieure bezahlt werden.

    Momentan liegt der Mindestlohn für Pflegekräfte bei gut zehn Euro. Warum so niedrig?

    Das ist der Mindestlohn für Hilfskräfte. Es gibt zu viele Interessen, die höheren Löhnen entgegenstehen. Internationale Investoren haben den sozialen Markt in Deutschland entdeckt und sehen darin ein reines Renditegeschäft. Dieses Geschäft lohnt sich besonders in Deutschland, weil es den alten Menschen hier im europäischen Vergleich finanziell noch besonders gut geht. So werden jedes Jahr in Deutschland Dutzende Pflegeheime von Investoren gebaut, die natürlich eine Rendite von mindestens zehn Prozent erwarten. 70 bis 80 Prozent der Kosten in der Pflege sind Lohnkosten. Und da wird dann gespart.

    Pflegekräfte sind besonders häufig krank im Vergleich zu anderen Berufen. Wundert Sie das?

    Leider nein. Der Beruf ist körperlich und emotional unglaublich kräftezehrend. Es gibt in der Pflege nicht nur das Problem, dass die Arbeitskräfte ausbrennen, sondern auch auskühlen. Neben dem Burnout ist das neue Phänomen der Coolout. Die Pflegenden verlieren angesichts der nicht mehr zu bewältigenden Aufgaben ihre Empathie. Sie werden zynisch und emotional stumpf. Auch aus Selbstschutz. Das ist alarmierend! Die Rahmenbedingungen dürfen die Menschen in den Pflegeberufen nicht kaputtmachen. Daher brauchen wir die Debatte so dringend, was diese Aufgaben unserer Gesellschaft wert sind.

    Den deutschen Rentnern geht es ausgesprochen gut, dafür sorgt die Politik. Aber in der letzten Lebensphase werden die Alten von der Politik offenbar verlassen.

    Politik wurde schon immer für die gemacht, die wählen gehen. Hochaltrige spielen da keine Rolle mehr. Deshalb kann man sie politisch vernachlässigen. Das ist reines Kalkül. Ich kann die Politik nur warnen: Wenn wir keine anständige Versorgung der ganz alten Menschen hinbekommen, werden wir sehen, dass der assistierte Suizid für viele zur echten Alternative wird. Uns werden dann die guten Argumente dagegen fehlen. Sehr alt und pflegebedürftig zu werden, darf in Deutschland keine Horrorvorstellung werden. Wenn das aber so ist, sagen sich immer mehr Leute: Das erspare ich mir, ich fahre lieber in die Schweiz und lasse mir einen Giftcocktail geben.

    Ist Sterbehilfe der würdevollere Tod?

    Das denken zu viele Menschen. Sie haben große Befürchtungen, irgendwann nur noch Qualen zu leiden und allen eine Last zu sein. Es gibt natürlich die viel bessere, würdevolle Alternative zum assistierten Suizid: eine qualifizierte und empathische Pflege – auch für hochaltrige Sterbende. Es gibt sehr gute medizinische und pflegerische Möglichkeiten, Menschen mit schwersten Krankheiten würdevoll aus dem Leben zu geleiten. Es kann nicht sein, dass unsere Gesellschaft irgendwann den Giftcocktail als ideale Lösung fürs Lebensende betrachtet. Der natürliche und würdevolle Tod muss das Ziel einer humanen Gesellschaft sein.