Istanbul.

In den frühen Morgenstunden des 13. April krachten in einem Haus im Istanbuler Stadtteil Kartal die Türen. Lautes Getöse, das Geräusch schwerer Stiefel und Geschrei erfüllten das dreistöckige Haus. Ein Sondereinsatzkommando der türkischen Polizei hatte gegen 4 Uhr morgens die Haustür aufgebrochen, bahnte sich den Weg in den zweiten Stock. Als dort die Tür geöffnet wurde, drangen die Beamten in die Wohnung ein. Ihr Ziel: Adil Demirci, 32 Jahre alt, deutscher Staatsbürger, Kölner Sozialwissenschaftler und von Deutschland als Journalist aus frei für die Nachrichtenagentur Etha tätig. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP), die vom türkischen Staat als Terrororganisation eingestuft wird.

Die Verhaftung Demircis ist eine neue Belastungsprobe für die deutsch-türkischen Beziehungen, die sich nach den Freilassungen der deutschen Journalisten Mesale Tolu und Deniz Yücel sowie des Menschenrechtlers Peter Steudtner leicht entspannt hatten.

Demirci, der neue Gefangene der Türkei, kam zunächst in das Polizeipräsidium in der zentral gelegenen Istanbuler Vatan Caddesi, der Vaterlandsstraße. Dann wurde er ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri gebracht. Die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan hält in Silivri ihre vermeintlich schlimmsten Feinde gefangen: Oppositionspolitiker, Journalisten, Offiziere, die angeblich am Putschversuch vom 15. Juli 2016 beteiligt waren. Und nun auch Adil Demirci.

2000 Kilometer entfernt wartet Tamer Demirci immer noch auf den ersten Anruf seines Bruders. „Adil ist für einen Kurzurlaub mit unserer an Krebs erkrankten Mutter in die Türkei gefahren. Wir wollten ihr etwas Gutes tun, ihr etwas Ablenkung von der Chemotherapie verschaffen“, sagt der 24-Jährige.

„Die Bundesregierung darf sich nicht einlullen lassen“

Adils Mutter, Elif Demirci, hatte in der Nacht der Verhaftung im dritten Stockwerk des Hauses geschlafen. Bis dorthin drangen die Polizisten nicht vor. Mittlerweile ist die 64-Jährige zurück in Köln, setzt ihre Chemotherapie fort. „Das Chaos rund um Adils Verhaftung war ein riesiger Schock für sie“, sagt Tamer Demirci. Ein Schock, der wenig später in neue Motivation umschlug: „Meine Mutter will jetzt schnell wieder gesund werden. Sie will ihn unterstützen.“

Gelegenheit dazu bekam die Mutter am vergangenen Wochenende. Nach über fünf Wochen wurde ihr ein erster Besuch bei ihrem Sohn genehmigt. „Adil erträgt die Situation so gut es geht und hat sich für die Solidarität aus Deutschland bedankt“, berichtet Tamer. Es gibt aber auch Negatives zu berichten: „Er kann immer noch nicht telefonieren, kriegt keine Zeitungen.“

Die Vorwürfe gegen seinen Bruder nennt der 24-Jährige „absurd“. Drei Beerdigungen von Mitgliedern der MLKP soll Demirci zwischen 2013 und 2015 besucht, Propaganda gegen den türkischen Staat betrieben haben. Ein Vorwand, so Tamer, um die journalistische Arbeit seines Bruders zu kriminalisieren. „Mit diesen Schikanen will die türkische Regierung diejenigen Journalisten, die kritisch über die Zustände in der Türkei berichten, mundtot machen.“ Über den Zustand seines Bruders, weiß der jüngere Bruder nur sehr wenig.

Auch Said Baluri, Studienkollege und Sprecher des Solidaritätskreises „Freiheit für Adil“ macht sich ernsthafte Sorgen. „Adil saß eine Woche lang in Isolationshaft, war danach laut seiner Anwältin sehr gestresst, aber gefasst.“ Jetzt teilt der Kölner mit einem anderen Gefangenen die Zelle, seine Kommunikation ist aber massiv eingeschränkt

Mesale Tolu kennt die Haft im türkischen Gefängnis. Auch sie hatte bis zu ihrer Festnahme im April 2017 für die Nachrichtenagentur Etha gearbeitet und mehr als sieben Monate lang in türkischer Untersuchungshaft gesessen. Die Anklage lautet – wie bei Demirci – auf Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der MLKP. Inzwischen durfte sie das Gefängnis verlassen, doch aus der Türkei ausreisen, darf sie nicht. Ihr Prozess läuft und wird am 16. Oktober fortgesetzt.

Sie glaubt, Adil Demirci habe es noch schwerer als sie. „Adil hat nie in der Türkei gelebt, kennt das Land nur durch Besuche bei seiner Familie“, sagt Tolu. Für einen deutschen Journalisten, der in Sicherheit arbeite, sei eine Inhaftierung schwerer zu verkraften. Alles sei fremd, beängstigend, sagt Tolu dieser Zeitung.

Der antidemokratische Prozess in der Türkei, so die 33-Jährige, gehe auch nach der Freilassung des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel weiter. „Adil und die vielen anderen in der Türkei inhaftierten Journalisten brauchen unsere unbedingte Solidarität, sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten.“

Hoffnung auf einen schnellen Prozess für den Kölner hat Tolu nicht, fürchtet, „dass Adil für Monate in Haft bleiben wird“. Auch sie selbst blickt in eine ungewisse Zukunft, fürchtet, dass sich ihr Prozess jahrelang hinziehen könnte. Doch resignieren will sie nicht. „Ich bleibe optimistisch, habe ja nichts gemacht“, sagt Tolu dieser Zeitung.

Die Organisation Reporter ohne Grenzen fordert die Freilassung Demircis, der auch einen türkischen Pass besitzt. Zwar begrüße man den schärferen Ton Berlins in Richtung Türkei, die Regierung müsse aber „aufpassen, sich nicht einlullen zu lassen“, sagt Geschäftsführer Christian Mihr. „Es kann keine Normalität geben, solange Adil Demirci und viele andere kritische Journalisten in Haft sind.“

Dem Auswärtigen Amt zufolge sitzen derzeit außer Demirci vier Bundesbürger aus politischen Gründen in der Türkei in Haft. Bei einem davon handelt es sich um Enver Altaylı (73); die Namen der anderen drei sind nicht bekannt.