Berlin.

An einem dieser warmen Nachmittage im Mai ist das Sowjetische Ehrenmal im Berliner Treptower Park gut besucht. Der viele Beton und die Steinplatten wirken stumpf und trocken. Neben jungen Russen, italienischen und französischen Touristen sitzen Adalina und Manfred etwas abseits auf einer Mauer. Sie lebt in Berlin, er in Nauen. Versonnen schaut dieses adrette ältere Pärchen auf die Anlage, die ein riesiger Friedhof ist. 7000 russische Soldaten, die an der letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Europa teilgenommen haben, sind hier begraben. Am 2. Mai 1945 endete der Kampf um Berlin und kostete insgesamt 170.000 Menschen das Leben.

Adalina Lindner ist gebürtige Russin und Manfred Burow Deutscher. Sie haben gerade ein Date, ihr zweites. Das Paar steht stellvertretend für das kriselnde Verhältnis zwischen Deutschland und Russland, für die Diskrepanz zwischen den gewünschten guten Beziehungen der Deutschen zu Russland und dem, was die große Politik macht.

Die Frau, sie ist 58 Jahre alt, hat den Ort ausgesucht. Sie sagt, „der Ort ist für mich Geschichte und auch ein bisschen Heimat“. Denn ihr Vater gehörte zu den Soldaten, die Berlin befreiten. Ihre Familiengeschichte muss Manfred verstehen und schätzen, wenn es noch ein drittes Date geben soll. Also, eine Fortführung ihrer russisch-deutschen Beziehung. Der 57-jährige Manfred sagt: „Wenn ich an die armen Kerle denke, die hier begraben liegen, kriege ich Gänsehaut.“ Er ist in Oranienburg geboren und sagt, dass die Ostdeutschen sich Russland immer schon mehr verbunden fühlen als die Westdeutschen.

Zwischen hartem Kurs, Dialog und „diffusem Gefühl“

73 Jahre nach dem Kampf um Berlin steht die Dankbarkeit nicht im Vordergrund der derzeitigen politischen deutsch-russischen Beziehungen, das Verhältnis ist durchaus angespannt. Es wird von einem Riss gesprochen, Bundespräsident Steinmeier warnte vor einer „galoppierenden Entfremdung“ und fehlenden Vertrauensbasis. Da es in Beziehungen immer auch um Deutungshoheit geht, trennt die Bundesregierung und die Führung in Moskau gerade nicht die Vergangenheit, sondern der Ukraine-Konflikt, Russlands Rolle im syrischen Bürgerkrieg oder auch die Wahrheitsfindung im Giftanschlag auf einen früheren russischen Agenten in London.

Adalina und Manfred fühlen die krasse Diskrepanz zwischen ihrem Wunsch nach besseren Beziehungen und der handelnden Politik. „Wir sollten den Russen dankbar sein, das ist eine Selbstverständlichkeit: Für die Befreiung und auch für den Fall der Mauer“, sagt der 57-Jährige. Und sie befindet: „In Russland ist der 9. Mai, der Tag des Sieges über Deutschland, der wichtigste Feiertag im Jahr. Ich möchte nie wieder Krieg zwischen den beiden Ländern, denn wenn Politiker Fehler machen, muss es immer die Bevölkerung ausbaden.“ Das Paar ist besorgt. Und damit spiegeln sie die Mehrheitsmeinung der Deutschen wider. Denn aktuelle Umfragen haben ergeben, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung eine Besserung der deutsch-russischen Beziehungen wünscht. In einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Fernsehsenders RTL vom März sind 91 Prozent der Meinung, von Russland gehe keine Gefahr aus. Und 74 Prozent gaben an, die augenblicklichen Beziehungen zwischen beiden Ländern seien schlecht. In einer weiteren Forsa-Umfrage aus dem April sieht die Mehrheit die Hauptverantwortung für die jüngste Verschärfung zwischen Ost und West nicht bei Russland. Die Hälfte glaubt, die USA seien schuld. Und mehr als die Hälfte wünscht sich einen langsamen Abbau der Wirtschaftssanktionen gegen Russland.

Im Falle des Ex-Spions Skripal hatte sich Deutschland auf die Seite Großbritanniens gestellt und Russland verantwortlich gemacht, schließlich vier russische Diplomaten ausgewiesen. Bereits in seiner Antrittsrede Mitte März hatte Außenminister Heiko Maas einen härteren Kurs Russland gegenüber angekündigt: Niemand, sagte er, brauche eine deutsche Außenpolitik, die sich selbst überschätze, „aber ebenso falsch, und in dieser Weltlage womöglich noch gefährlicher, ist eine Außenpolitik, die sich wegduckt“. Maas forderte aber auch „konstruktive Kanäle des Dialogs“. Nach Maas und Wirtschaftsminister Altmaier in der vergangenen Woche fliegt nun auch Angela Merkel nach Russland, ihr Besuch am Freitag in Sotschi soll ein Arbeitsbesuch sein, es werde um die globalen Krisen wie Syrien, Iran und die Ostukraine gehen.

Der Russland-Experte Stefan Meister kann die Sorge vieler Deutscher erklären. „Diese neueren Umfragen zeigen vor allem ein diffuses Gefühl, welches viele Teile unserer Gesellschaft haben. Es resultiert aus einer Unsicherheit heraus, wohin das Verhältnis zu Russland sich entwickelt.“ Denn trotz des Wissens um Russlands Rolle im Syrienkrieg, dem Konflikt mit der Ukraine und der nicht geklärten Einmischung Russlands in die US-Wahlen spürten die Menschen, dass das Verhältnis so wie es jetzt ist, nicht richtig sei. Er schätzt, etwa 40 bis 60 Prozent der Deutschen sehen Russland eher positiv. Zu der Gruppe gehören auch AfD-Wähler, Teile der FDP, Anhänger der Linken, der 68er, Menschen aus der Friedensbewegung, Bürger, die aus einem Anti-Trump oder Anti-Amerikanismus heraus, sich Russland zuwenden. „Und natürlich sind viele Deutsche Russland nach wie vor dankbar für die Befreiung im Zweiten Weltkrieg und dem Fall der Mauer.“ So wie Manfred Burow am Sowjetischen Ehrenmal.

Dazu komme, dass der derzeitige Präsident der USA mit seiner Art, wie er Politik macht, unzuverlässig wirke, Putin stelle dazu einen Gegenpol dar. „Die Leute empfinden Donald Trump als Destabilisator und unglaubwürdig.“ Dabei versuche Wladimir Putin natürlich auch den Westen zu destabilisieren, befindet Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Der Konflikt mit dem Westen sei eine wichtige Legitimationsressource für das System Putin, gerade in Zeiten einer ökonomischen Krise im eigenen Land. Putin habe Russland zumindest in der Außenpolitik wieder auf die Weltbühne gebracht. Und das haben die Russen mit seiner Wiederwahl auch anerkannt. Laut Meister verfüge Putin in der deutschen Gesellschaft über eine größere Glaubwürdigkeit als der US-Präsident – und das trotz Putins Geheimdienstvergangenheit.

Auch Adalina Lindner unterstützt Putin, auch wenn sie seit 2004 in Deutschland lebt. Denn Putin habe viel für ihre Heimat Donbass an der ukrainisch-russischen Grenze getan. Dort herrscht seit 2014 ein Bürgerkrieg zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten. Adalina habe sich immer eher russisch gefühlt.

Die Bilder von Wladimir Putins vierter Amtseinführung sorgten gerade in Deutschland für besonderes Aufsehen, weil Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder im Kreml zu den ersten Gratulanten gehörte und applaudierte. Die Grünen bezeichneten Schröder daraufhin als „Claquer“. Der Alt-Kanzler war bei der Zeremonie der einzige westliche Vertreter von Bedeutung. Auf Anfrage dieser Redaktion wollte Gerhard Schröder nicht auf das deutsch-russische Verhältnis eingehen. Er ist im Aufsichtsrat und Verwaltungsrat zweier russischer Gas- und Mineralölunternehmen und wird für diese Tätigkeiten bezahlt. Und weil Bilder manchmal mehr sagen als Worte, ist mit diesem Auftritt eindeutig, dass er nicht ganz mit Außenminister Maas und Bundeskanzlerin Merkel auf einer außenpolitischen Linie liegt.

Einer, der wie Gerhard Schröder von Kritikern eher abschätzig als „Putin-Versteher“ bezeichnet wird, ist Matthias Platzeck. Er sieht in dem Treffen von Merkel und Putin eine große Chance. „Ich bin jede Woche auf mehreren Veranstaltungen zum Thema Russland und die Leute formulieren immer wieder den Wunsch: Macht endlich etwas Vernünftiges und versteht euch wieder mit den Russen.“ Zu oft erlebe der ehemalige Vorsitzende der SPD und nun Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, dass zwischen dem, was in Küchen und Freundeskreisen gesprochen werde und dem, was Politiker sprechen, ein zu großer Unterschied bestehe. „Das ist kein guter Zustand für unsere Demokratie.“ Auch in der russischen Bevölkerung nehme er einen Zustand wahr, der ihm Sorgen mache: „Auch in Zeiten des Kalten Krieges war der Westen für die normalen Russen oft der Sehnsuchtsort schlechthin. Wenn man heute mit Russen redet, spätestens seit dem Attentat auf Skripal und der sofortigen Schuldzuweisungen an Russland, herrscht dort eine ausgeprägte antiwestliche Stimmung.“ Platzeck hofft nun, dass Merkel eine Vermittlerrolle für Europa einnehmen kann. „Sie hat im Wahlkampf gesagt, dass wir kein Problem ohne die Russen lösen können, nicht den Klimawandel, die Flüchtlingsfrage, die Terrorbekämpfung und auch nicht die Iranfrage. Die Kanzlerin muss jetzt viel besprechen, um den Frieden zu wahren.“ Platzeck meint, dass Geschichte sich zwar nicht wiederhole, man solle aber aus ihr lernen und zitiert das Konzept „Wandel durch Annäherung“ von Willy Brandt und Egon Bahr. Noch heute würden sich darin gute diplomatische Ansatzpunkte finden.

Für das Pärchen Adalina und Manfred sieht es gut aus. Weitere Treffen wird es geben. Ihr Beitrag zur deutsch-russischen Völkerverständigung.