Berlin.

Gewerkschaftskongresse sind grau und langweilig? Von wegen. Bevor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Sonntag zur Eröffnung des Bundeskongresses des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Berlin ans Rednerpult schritt, lieferte eine Seiltänzerin zu einem Hit der irischen Popband U2 eine spektakuläre Show unter dem Hallendach ab. Die Gewerkschaften wissen, auch sie müssen in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft und Arbeitswelt ihr Image aufpolieren, um eine Zukunft zu haben. So ist der DGB bei der Mitgliederzahl vergangenes Jahr unter die Sechs-Millionen-Marke gerutscht. Ende 2017 hatten die acht DGB-Gewerkschaften 5,995 Millionen Mitglieder – 52.000 weniger als im Jahr zuvor. Zehn Jahre zuvor waren es noch 6,441 Millionen. Ein Grund für den Rückgang ist die Überalterung der Gesellschaft. Die Gewerkschaften werden außerdem durch Geschäftsmodelle großer Internetkonzerne herausgefordert, die Arbeitnehmern nur Mindestrechte zugestehen wollen.

Die Beschleunigung durch die Digitalisierung sei spürbar, verändere alle Lebensbereiche, betonte Steinmeier in seiner Rede. Deutschland brauche starke Gewerkschaften, um diese Umbrüche zu bewältigen: „Ich glaube, das ist die nächste große Bewährungsprobe des Sozialstaates“, sagte der Bundespräsident. Der Verzicht auf Schutz bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter dürfe nicht infrage gestellt werden: „Dies käme der Preisgabe des Sozialstaates gleich.“ Steinmeier forderte ein Regelwerk für die digitale Arbeitswelt, um die Rechte der Arbeitnehmer zu wahren. „Ich bin überzeugt, wir brauchen so etwas wie eine Ethik der Digitalisierung.“ Denn was passiert, wenn ein Arbeitgeber, der Jobs über eine digitale Plattform im Internet vermittelt, plötzlich verschwindet? „Wer zahlt bei Urlaub und Krankheit? Wer zahlt in die Rentenkasse? Die Antwort: ,Niemand‘ können wir nicht akzeptieren“, so Steinmeier. DGB-Chef Reiner Hoffmann kritisierte, dass Anbieter von Internet-Plattformen sich weigerten, ihre Rolle als Arbeitgeber anzunehmen: „Das betrifft Millionen Menschen.“ Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) warf in der „Frankfurter Rundschau“ Dienstleistern aus der Digitalwirtschaft vor, Beschäftigte auszubeuten: „Einige verwechseln Digitalisierung mit Ausbeutung.“

In der Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen bezog Steinmeier klar Position. „Der Verweis auf das bedingungslose Grundeinkommen war mir persönlich immer zu defensiv. Das käme einer Kapitulation gleich, noch bevor wir über die Zukunft der Verteilung von Arbeit, Qualifizierung und sozialer Sicherung ernsthaft diskutiert haben“, sagte Steinmeier. Eine „Abstellprämie für die Stilllegung von Arbeitskraft“, wie es DGB-Chef Hoffmann beschrieben habe, wäre für die Beschäftigten kein Segen. „Arbeit ist mehr als Einkommen“, so Steinmeier.

Mit dem Start der großen Koalition hatten SPD-Politiker wie der Berliner Regierende Bürgermeister Michael Müller eine Diskussion über die bestehende Grundsicherung und weitere Änderungen an den Hartz-IV-Arbeitsmarktreformen ins Gespräch gebracht. Dazu zählen Vorschläge für ein solidarisches Grundeinkommen. Dabei würde jeder Bürger monatlich einen festen Betrag vom Staat zum Leben bekommen, alle aktuellen Sozialleistungen wie das Arbeitslosengeld würden wegfallen. In der SPD-Spitze ist die Bereitschaft überschaubar, 15 Jahre nach ­den vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder eingeleiteten Reformen grund­legend über Hartz IV zu diskutieren. Steinmeier mahnte nun an, die Debatte über den Sozialstaat „mit mehr Ernst und mit mehr Ehrgeiz“ zu führen. Am Dienstag wird Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beim DGB erwartet.