Berlin. Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager über das Verfahren gegen den Internet-Giganten, die Einführung einer Digitalsteuer und die Praktiken der deutschen Autoindustrie

Als EU-Wettbewerbskommissarin, die Milliardenstrafen gegen Unternehmen verhängen kann, ist Margrethe Vestager schon jetzt die mächtigste Frau in Brüssel. Und ihr werden noch höhere Ambitionen nachgesagt. Beim Besuch in unserer Berliner Redaktion hat sie auch eine Botschaft für die deutsche Autoindustrie.

Kommissarin Vestager, das „Time“-Magazin nannte Sieeinmal „Googles schlimmsten Albtraum“. Fühlen Sie sich gut beschrieben?

Margrethe Vestager: Der schlimmste Albtraum jedes Unternehmens ist, den eigenen Kunden nicht gut zu dienen. Als Wettbewerbskommissarin bin ich nur die Vermittlerin zwischen Kunden und Unternehmen. Europa hat 500 Millionen Kunden, die erwarten, dass ihre Rechte durchgesetzt werden.

Sie verlangen von Google die Rekordsumme von 2,4 Milliarden Euro, weil das Unternehmen in seinen Suchlisten – so der Vorwurf – den eigenen Shoppingdienst bevorzugt. Was kommt bei dem Verfahren heraus?

Ich bin zuversichtlich, dass wir den Rechtsstreit gegen Google gewinnen. Die 2,4 Milliarden Euro werden dann auf die Mitgliedstaaten verteilt – nach dem Schlüssel, der auch für die Beitragszahlungen gilt.

Das würde rund eine halbe Milliarde Euro in die deutsche Staatskasse spülen. Lässt sich die Macht der amerikanischen Digitalkonzerne mit Wettbewerbsverfahren begrenzen?

Die Verfahren sind ein Teil der Lösung, wenn es darum geht, Missbrauch von Marktmacht einzudämmen. Unternehmerischer Erfolg ist in Europa mehr als willkommen. Aber wenn man so erfolgreich ist wie Google, das über 90 Prozent des Suchmaschinenmarkts beherrscht, ist der Wettbewerb naturgemäß geschwächt. Google hat eine besondere Verantwortung, seine Position nicht zu missbrauchen. Das Wettbewerbsrecht ist ein wichtiges Instrument. Es braucht aber auch Regulierung durch die Gesetzgeber, damit die digitale Wirtschaft funktioniert.

Brauchen wir ein europäisches Google?

Europa mangelt es nicht an Unternehmen, die Kunden auf der ganzen Welt ansprechen. Das Problem ist eher, dass die Dominanz von Google europäische Innovationen bremst. Uns fehlen Kapital und Größe, um wirklich mithalten zu können. Das macht das Verfahren gegen Google so bedeutend: Niemand gibt einem Unternehmen, das bei Google nicht zu finden ist, sein Geld. Daher verlangen wir von Google nicht nur eine Strafzahlung. Google muss auch damit aufhören, die Dienste anderer Unternehmen schlechter zu behandeln als die eigenen.

Internetkonzerne wie Google zahlen obendrein kaum Steuern in Europa. Daher hat die EU-Kommission eine neue Digitalsteuer vorgeschlagen. Doch viele Mitgliedstaaten sträuben sich – auch der deutsche Finanzminister Olaf Scholz zeigt wenig Interesse. Sind Sie enttäuscht?

Ich bin überrascht, dass unser Vorschlag einer Digitalsteuer in den Mitgliedstaaten bisher so wenig Anklang findet. Unser Konzept sollte als Anpassung der Unternehmensbesteuerung an die digitale Welt verstanden werden. Wenn sich die Wirtschaft digitalisiert, kann die Besteuerung nicht dahinter zurückbleiben.

Das haben Scholz und Kollegen nicht verstanden?

Die Reaktionen überraschen mich jedenfalls sehr. Gleichbehandlung ist ein fundamentaler europäischer Wert, der auch bei der Unternehmensbesteuerung gelten sollte. Digitale Unternehmen zahlen durchschnittlich zehn Prozent Steuern in Europa – bei den anderen sind es im Schnitt 24 Prozent. Dabei kann es nicht bleiben.

Sie ermitteln nicht nur gegen globale Internetkonzerne, sondern auch gegen deutsche Autohersteller. Es geht um möglicherweise verbotene Absprachen. Was haben VW, Daimler, BMW, Audi und Porsche zu fürchten?

Etwas zu fürchten haben die deutschen Autobauer nur, wenn sie Illegales getan haben. Wir gehen hier sehr sorgfältig vor und kommen nicht überhastet zu Entscheidungen. Es ist in Ordnung, wenn Autokonzerne zum Wohl der Verbraucher zusammenarbeiten. Es gibt aber auch illegale Absprachen, die den Verbrauchern schaden. Wir wollen niemanden zu Unrecht bestrafen.

Wann ist mit einem Ergebnis zu rechnen?

Der Fall der deutschen Autohersteller hat für uns höchste Priorität, aber wir setzen uns nicht mit Fristen unnötig unter Druck. Das Verfahren kann sich auf sehr viele Menschen auswirken.

Die USA gehen besonders rigoros vor, wenn es um den Schutz der Verbraucher geht. Das zeigt gerade der VW-Abgasskandal. Können die Europäer davon lernen?

Das glaube ich nicht. Wir brauchen einen europäischen Weg, um mit Schäden umzugehen, von denen viele Menschen betroffen sind. Sammelklagen nach dem Vorbild der USA halte ich nicht für sinnvoll.

Dem früheren VW-Chef Martin Winterkorn drohen in den USA 25 Jahre Haft. Verfolgen Sie, was aus ihm wird?

Ich sehe nur die Schlagzeilen in den Zeitungen. Auch in Deutschland wird ja noch ermittelt. Aber Europa geht in solchen Fällen generell anders vor. Bei uns müssen Vorstandsvorsitzende, die sich falsch verhalten, nicht gleich ins Gefängnis.

Sollten Konzernchefs auch mit ihrem privaten Vermögen für Schäden haften, die sie zu verantworten haben?

Es wird immer wieder über private Haftung diskutiert im Rahmen des Wettbewerbsrechts. Aber wir haben uns bisher dagegen entschieden. Wir setzen auf abschreckende Strafen für Unternehmen. Sie werden schnell genug verhängt, damit sich Top-Manager für Aktionen rechtfertigen müssen, die sie selbst zu verantworten haben. Und das wird alles andere als angenehm sein.

Es gibt Spekulationen, Sie könnten im kommenden Jahr bei der Europawahl als Spitzenkandidatin antreten – für eine von Macron geschmiedete Allianz. Ist das aus der Luft gegriffen?

(lacht) Die dänische und die deutsche Politik haben nicht viel gemein – mit Ausnahme der Gerüchte. Ich konzentriere mich auf meine tägliche Arbeit.

Wird es Zeit für die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission?

Die Zeit für Frauen ist überall gekommen. Es wäre großartig, eine EU-Kommissionspräsidentin zu bekommen.