Aachen.

Emmanuel Macrons Geduld mit der Kanzlerin und ihrer Bundesregierung geht zu Ende. „Wir dürfen nicht warten, wir müssen jetzt etwas tun und Entscheidungen für Europa treffen“, ruft der französische Präsident im Aachener Rathaus. Er ballt beide Hände zur Faust, die goldglänzende Karlspreis-Medaille, die sie ihm kurz zuvor um den Hals gelegt haben, rutscht hin und her. Mehr Mut sei nötig, Deutschland und Frankreich müssten über ihren Schatten springen, drängt Macron: Paris müsse neue Regeln im EU-Vertrag akzeptieren, in Deutschland aber könne es keinen „Fetisch“ für Haushalts- und Handelsüberschüsse geben – diese Überschüsse, beklagt Macron ungewöhnlich klar, gingen immer auf Kosten anderer.

Angela Merkel sitzt nur wenige Meter entfernt vom Rednerpult, die Kanzlerin lässt sich nichts anmerken. Auch nicht, als Macron eine Mahnung nachschiebt, die als Spitze gegen Merkels Methode der kleinen Schritte verstanden werden darf: Erst brauche man „Visionen für 30 Jahre“, fordert der Präsident – dann könne man mit kleinen Schritten dorthin steuern.

Die offene Kritik am deutschen Sparkurs als „Fetisch“, die Distanz zu Merkels Politikstil sind neue Töne für den jungen Präsidenten. Mit der in weiten Teilen flammenden Rede bedankt sich Macron für den Aachener Karlspreis 2018, der ihm als „mutiger Vordenker für die Erneuerung des europäischen Traums“ für Verdienste um die Einheit Europas verliehen wird. Aber Macron läutet hier auch eine neue Etappe seines europapolitischen Kurses ein: Über ein halbes Jahr hat der Präsident auf Deutschland und die Kanzlerin gewartet, um gemeinsam die Erneuerung der EU nach schweren Krisenjahren voranzubringen. Jetzt zeigt er offen die lange versteckte Ungeduld und demonstriert, dass er sich mit einem Karlspreis als Dankeschön nicht abspeisen lässt.

Merkel hat zuvor die Gelegenheit verstreichen lassen, bei der Zeremonie im Krönungssaal des Rathauses konkretere Antworten auf Macrons Vorschläge zu EU-Reformen zu geben. Dabei hatten die Karlspreis-Stifter der Kanzlerin vor wenigen Tagen intern ausrichten lassen, sie solle bitte keine Laudatio halten, sondern eine Ansprache zur Lage Europas – und sich damit endlich zu Macrons im September präsentierten Ideenkatalog positionieren, der von der gemeinsamen Verteidigung mit EU-Einsatztruppe und eigenem Budget über ein europäisches Asylamt bis zu mehr Solidarität und Zusammenarbeit in der Eurozone reicht.

Aber so einfach lässt sich Merkel nicht aus der Reserve locken. In persönlichen Worten würdigt sie Macrons Begeisterung, Einsatz und Courage: „Du sprühst vor Ideen und hast die europapolitische Debatte mit neuen Vorschlägen neu belebt“, sagt sie. Deutschland sei mit Frankreich überzeugt, „dass wir einen neuen Aufbruch in Europa brauchen“. Europa müsse sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, die gemeinsame Außenpolitik stecke aber noch in den Kinderschuhen. Inhaltliche Festlegungen vermeidet die Kanzlerin konsequent. Bei der Reform der Eurozone, um den Schutz gegen künftige Krisen zu verbessern, bleibt sie besonders vage, spricht von schwierigen Diskussionen, verweist auf die unterschiedliche finanzpolitische Kultur beider Länder. Merkel versichert, bis Juni würden Berlin und Paris Lösungen präsentieren. Nach dem jetzigen Stand, sagen Eingeweihte in Brüssel, wird ein Minimalkonsens zur Bankenunion vorgelegt, mehr nicht.

Macron aber kämpft jetzt für seine Ideen: „Wir müssen aus den Tabus und Ängsten herauskommen“, mahnt er und ruft: „Seien wir nicht schwach.“ Bei seinen Reformvorschlägen etwa zu einem Haushalt für die Eurozone gehe es nicht um Frankreichs Vorteil oder ein Europa der Defizite. „Frankreich will ein Europa um Europas Willen.“ Und dieses Europa brauche mehr Solidarität als bisher. Am Vorabend spricht er in Aachen im Interview mit der ARD und der Deutschen Welle Klartext: „Deutschland hat ein Tabu. Das sind die Transferleistungen. Doch ohne geht es nicht.“ Eine Eurozone ohne Transfers werde „nicht lange funktionieren“. Und auch wenn der Präsident versichert, von Merkel nicht enttäuscht zu sein, so macht er doch klar: „Ich warte auf eine deutsche Antwort.“

In Aachen ist der Rückhalt für ihn groß. Macron sei ein „Glücksfall“ für Europa, hat am Vortag beim Karlspreis-Forum der Philosoph Peter Sloterdijk erklärt. Seine Meinung wird von vielen Diskutanten geteilt: Deutschland könne mit seiner Zögerlichkeit eine einmalige Chance für Europa verspielen. Aus Merkels Sicht indes ist die Lage komplizierter. Vieles von dem, was Macron jetzt fordert, war die Kanzlerin vor fünf Jahren bereit zu tun – damals scheiterte unter anderem ein eigenes Eurozonen-Budget an Macrons Vorgänger François Hollande, der kalte Füße bekam, weil er im Gegenzug Reformen daheim zusagen sollte.

Macron ist konsequenterweise diesmal in Vorleistung gegangen. Aber nun ist Merkels Spielraum kleiner: Sie hat nicht nur mit massiven Bedenken in der Unionsfraktion zu kämpfen – auch der Widerwillen mancher EU-Staaten gegen mehr Solidarität in der Eurozone ist gewachsen. Unter Führung der Niederlande hat sich eine Allianz von acht Ländern gegen Macrons Pläne gebildet.

Die Bundesregierung steht im Zwiespalt zwischen französischem Drängen und dem eigenen Rollenverständnis, die EU zusammenzuhalten. Macron indes hält das Vorpreschen einiger Staaten für die bessere Strategie: „Es ist die Verantwortung Deutschlands und Frankreichs, die Länder mitzuziehen, die folgen wollen.“