Tel Aviv/Berlin/Tunis.

und Christian Unger

Wie sich eine Eskalation im Nahen Osten anfühlt, erlebten die Menschen in Israel in der Nacht zum Donnerstag. Iranische Streitkräfte griffen erstmals von Syrien aus israelische Militärposten an, wie ein israelischer Armeesprecher mitteilte. 20 Raketen hätten die Kuds-Brigaden, die Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden, auf die Golanhöhen im Norden des Landes abgefeuert. Israels Luftwaffe habe daraufhin Dutzende ­iranische Militärziele in Syrien angegriffen. Es war eine der stärksten Opera­tionen der vergangenen Monate, so die israelische Armeeführung. Schon in den vergangenen Wochen kam es zu Angriffen auf iranische Soldaten in Syrien, die dem israelischen Militär zugeschrieben wurden. Die Führung in Teheran hatte Vergeltung angekündigt.

Viele Experten meinen deshalb, der Schlagabtausch zwischen Iran und ­Israel an den Golanhöhen sei keine Überraschung, er habe sich angekündigt. Doch folgen die Attacken nur einen Tag, nachdem die Regierung der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran ausgestiegen ist. Die USA sprachen von einem „zusätzlichen Beweis, dass dem iranischen Regime nicht zu trauen ist“.

Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete, bei dem Angriff in Syrien seien 23 Menschen getötet worden. Die syrische Armee sprach dagegen von drei toten und zwei verwundeten Soldaten. Die Angriffe hätten eine Radaranlage und ein Munitionslager zerstört und mehrere Luftabwehranlagen beschädigt. Nach Angaben der israelischen Armee wurden vier der Geschosse aus Syrien von der Raketenabwehr abgefangen. Es habe keine israelischen Opfer gegeben.

Seit dem Beginn des Syrienkrieges 2011 ist der Nahostkonflikt wieder stärker zu einem Schauplatz des Kräfte­messens von Großmächten geworden. Das Regime im Iran ist neben Russland und der libanesischen Schiiten-Miliz Hisbollah wichtigster Verbündeter des syrischen Staatschefs Baschar al-Assad. Israels Regierungschef Benjamin ­Netanjahu hatte am Mittwoch bei einem Besuch in Moskau mit dem rus­sischen Präsidenten Wladimir Putin über die Lage in Syrien gesprochen. Israel wirft Teheran vor, seine Präsenz im Bürgerkriegsland Syrien ausgebaut und viele Waffen dorthin geliefert zu haben. Das Regime in Teheran bestätigte den Angriff auf Israel nicht. Israels Führung beunruhigt neben dem Atomthema vor allem die massive iranische Militär­präsenz in Syrien. 3000 Revolutions­gardisten hat Teheran im Einsatz, die dort auf Dauer stationiert bleiben sollen. Hinzu kommen mindestens 10.000 vom Iran rekrutierte und bezahlte Milizionäre, vor allem Iraker und Afghanen.

Israels Außenminister Avigdor ­Liebermann von der stramm nationalen Partei Jisra’el Beitenu sagte: „Wir haben kein Interesse an einer Eskalation. Aber wir müssen auf jedes Szenario vorbereitet sein.“ Es handele sich um einen punktuellen Konflikt Israels mit den Kuds-Brigaden. „Alle wollen den Konflikt auf dieses Karree beschränken.“

Und doch sind die Verunsicherung und die Sorge vor einem Krieg zwischen Israel und dem Iran zu spüren – in Nahost, aber auch im Rest der Welt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte: „Die Eskalationen der vergangenen Stunden zeigen uns, dass es wahrlich um Krieg und Frieden geht.“ Auch Frankreichs Präsident Emmanuel ­Macron und die britische Regierung mahnten Besonnenheit an. Der rus­sische Außenminister Sergej Lawrow zeigte sich beunruhigt und forderte, die Spannungen zwischen Israel und dem Iran im Dialog zu lösen. Trotzdem könnte dem Kreml Israels offensiver Kurs der vergangenen Wochen durchaus gelegen kommen, weil er den iranischen Ambitionen in Syrien Grenzen setzt. Umgekehrt kann allein die rus­sische Luftabwehr den israelischen Jets gefährlich werden. Und so wird sich ­Israel hüten, das Assad-Regime oder russische Einrichtungen anzugreifen.

Eine große Unbekannte in den neu heraufziehenden regionalen Turbulenzen ist die Hisbollah. Die Schiiten-Miliz, die als der wohl kampfstärkste Verband in der arabischen Welt gilt, verfügt angeblich über ein Raketenarsenal von mehr als 100.000 Geschossen, die auch Tel Aviv erreichen können. Sollte es wegen des iranischen Nuklearprogramms zu direkten Luftangriffen Israels auf die Islamische Republik kommen, könnte die Hisbollah als langjähriger Statthalter Teherans in der arabischen Welt ihrerseits das Feuer auf Israel eröffnen. Doch dies wird sich die Führung der radikalen Miliz sehr genau überlegen. Denn Israel droht im Falle eines solchen Angriffes mit einer breitflächigen Zerstörung der libanesischen Infrastruktur.

Nicht nur die Taktik der schlagkräftigen Miliz ist in dem Konflikt schwer zu kalkulieren. Nach der Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran durch die USA wächst die ­Sorge vor einem nuklearen Wettrüsten in der Region. Einen ersten verbalen Schlag ­teilte bereits der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman aus. Saudi-Arabien wolle zwar keine Atombombe besitzen, versicherte er. „Wenn der Iran aber eine baut, werden wir – ohne jeden Zweifel – so schnell wie möglich nachziehen.“ Wie die Islamische Republik Iran besitzt auch Saudi-Arabien Uran, was sich auf ein waffenfähiges Niveau anreichern ließe – einer der beiden technischen Wege zur Bombe.

Die Saudis sträuben sich vor allem mit dem Verweis auf die Regierungen in der Türkei und in Ägypten, die ihre künftigen Atomkraftwerke bei den Russen kaufen. Beide lehnen jede Einschränkung bei der Anreicherung oder Wiederaufarbeitung ab – und Moskau ist das egal. Auch in der Vergangenheit hat Saudi-Arabien internationale Atomregeln verletzt. Das Königshaus finanzierte das Atomprogramm von Pakistan, was sich wie Indien und Israel dem internationalen Atomwaffensperrvertrag entzieht.

Auch im Iran mehren sich offenbar die Stimmen, die an einem Fortbestand des Atomabkommens zweifeln. Die europäischen Staaten hätten nicht die Macht, das Abkommen nach der Aufkündigung durch Donald Trump noch zu retten, sagte der Vizekommandeur der Revolutionsgarden der halbamt­lichen Nachrichtenagentur Fars zu­folge. „Europa kann nicht unabhängig beim Atomabkommen handeln.“