Beirut.

Der Souk el Tayeb im Zentrum Beiruts ist einer dieser Orte, an denen die verschiedenen Bewohner und Epochen des Libanons aufeinandertreffen. Jeden Sonnabend bauen die Händler des schicken Wochenmarkts ihre Buden auf, vor dem noch immer als Kriegsruine dastehenden Sandsteingebäude der Traditionszeitung „L’Orient-Le Jour“ und einer gerade im Bau befindlichen Shoppingmall der verstorbenen britisch-irakischen Stararchitektin Zaha Hadid. Hier gibt es Thymianmischungen mit Sesam und Seesalz, Seifen aus Ziegenmilch und vielfarbige Vasen. Die reichen Beiruter kaufen bei Christen, Drusen, Schiiten und Sunniten. Hier kommt die konfessionelle Vielfalt des Landes als bunter kultureller Reichtum daher.

Tatsächlich aber ist der Libanon auch 28 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs noch längst nicht bei einem entspannten Miteinander angekommen. Viele Bürger eint einzig ihre Sehnsucht nach Stabilität. Und nach Erneuerung. Besonders vor diesem Sonntag, wenn die Libanesen nach neun Jahren zum ersten Mal wieder ein Parlament wählen.

Der Religion entkommt niemand in diesem Land

„Die Politik hängt uns zum Hals raus“, sagt Wassim el-E., ein 60-Jähriger, der früher als Banker viel Geld verdiente und nun mit seiner Frau auf dem Souk el Tayeb Küchlein verkauft. El-E. will seinen richtigen Namen und sein Gesicht nicht in der Zeitung sehen. Zu kritisch ist seine Meinung zur politischen Klasse im Allgemeinen und zur Hisbollah im Speziellen. Die Schiiten-Miliz kontrolliert den Süden des Landes, einen Großteil der Bekaa-Ebene und Teile Beiruts. Im Libanon sitzt sie als Partei in der Regierung, in der EU wurde der bewaffnete Flügel als Terrororganisation eingestuft. Nach dem Bürgerkrieg 1990 durfte die Hisbollah als einzige Miliz ihre Waffen behalten, weil sie sich als „islamischer Widerstand“ gegen Israel profilierte. In Syrien hatten ihre Kämpfer zuletzt aber vor allem Anteil am Machterhalt des Diktators Baschar el-Assad. Die Hisbollah ist Irans verlängerter Arm.

Wassim el-E. hatte eine christlich-orthodoxe Mutter und einen muslimischen Vater. Er bezeichnet sich selbst als Agnostiker. Doch der Religion entkommt auch er nicht in diesem Land, jedenfalls nicht am Wahltag, nicht in der Politik. Die höchsten Staatsämter werden nach konfessionellem Proporz vergeben. Genauso die Sitze im Beiruter Parlament: 34 maronitische Christen, 27 Sunniten, 27 Schiiten, 14 griechisch-orthodoxe Christen, acht Drusen, acht griechisch-katholische und fünf armenisch-orthodoxe Christen, zwei Alawiten, ein Protestant und ein armenisch-katholischer Christ sowie ein Sitz, der Minderheiten vorbehalten ist. Religiöse Konflikte gehörten zu den Gründen für den Bürgerkrieg, auch deshalb gab es seit 1932 keine Volkszählung mehr. Doch es gibt Schätzungen: Während die Christen damals noch in der Mehrheit waren, stellen sie heute nur noch ein Drittel der Bevölkerung von sechs Millionen.

Das konfessionelle System verkompliziert die Politik. Aber es gibt noch weitere Gründe, warum seit 2009 nicht mehr gewählt wurde. Erst konnten sich die Fraktionen nicht auf einen neuen Staatspräsidenten einigen, dann drohte der Krieg in Syrien auf den Libanon überzugreifen, schließlich musste das Wahlgesetz reformiert werden. Letzteres ist extrem kompliziert geraten. „Neben Wählern gaben auch Mitglieder der Regierung offen zu, das Wahlgesetz nicht in allen technischen Details verstanden zu haben“, steht in einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) veröffentlichten Studie.

Michael Young ist Herausgeber des Nahost-Blogs „Diwan“ beim Carnegie Middle East Center in Beirut. Er sagt, dass das Wahlergebnis wegen des neuen Gesetzes schwer vorauszusagen ist. Malte Gaier, Leiter des KAS-Büros in Beirut, erklärt: „Nach den Kämpfen in Syrien und der Sicherung der libanesischen Grenze will sich die Hisbollah in Zukunft mehr um innenpolitische Themen wie Korruptionsbekämpfung und Steuerreformen kümmern.“ Der Parteienmiliz geht es darum, ihr politisches Erscheinungsbild glaubhaft zu legitimieren und dabei die Politik noch weiter unter Kontrolle zu bringen, damit keine andere Partei oder Koalition ihre Bewaffnung infrage stellt. Schon jetzt sollen über 100.000 Hisbollah-Raketen auf Israel gerichtet sein. Jerusalem wird die schiitischen Kämpfer nicht ewig gewähren lassen. Und wenn es zum Krieg kommt, droht im ganzen Libanon wieder schwere Zerstörung.

Sicher scheint, dass es auch nach der Wahl eine Art Regierung der nationalen Einheit geben wird. Wahrscheinlich wird der Sunnite Saad Hariri wieder Ministerpräsident. Der Sohn des 2005 ermordeten libanesisch-saudischen Baumagnaten und Ministerpräsidenten Rafik Hariri hatte im vergangenen November bei einem Staatsbesuch in Riad zunächst seinen Rücktritt erklärt, angeblich aus Angst um sein Leben und aus Protest gegen die Hisbollah. Womöglich aber erpresst vom saudischen Thronfolger Mohammed bin Salman. Erst nach drei Wochen und massivem US-Druck auf das saudische Königshaus konnte Hariri nach Beirut zurückkehren und dort seinen Rücktritt widerrufen. „Diese Episode hatte das Potenzial für eine neue Staatskrise“, sagt Malte Gaier.

Dabei muss der Libanon bereits mit anderen Problemen zurechtkommen, etwa der grassierenden Korruption. Im Index von Transparency International liegt das Land auf Platz 143 von 180. Oder den syrischen Flüchtlingen, verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen einer knappen Million und rund eineinhalb Millionen. Premier Hariri warnte im Wahlkampf, das ganze Land werde zum Flüchtlingslager. Vor allem könnte der Libanon zwischen die Fronten der Regionalmächte geraten. Für den Iran nimmt der Zedernstaat eine Schlüsselfunktion ein. Teherans Macht wiederum will man in Saudi-Arabien nicht einfach hinnehmen. Im Libanon bündeln sich die Konflikte des Nahen Ostens.

„Wir planen hier keine Revolution. Wir wollen bloß so etwas wie soziale Gerechtigkeit, Arbeit und eine ausreichende medizinische Versorgung“, formuliert der 32-jährige Serge Harfouche die simplen Hoffnungen seiner Generation. Vielen sind die ethnischen, konfessionellen oder politischen Zugehörigkeiten längst egal. Serge Harfouche hat gemeinsam mit anderen jungen Libanesen in Tripoli eine Sprachschule und ein Schulprojekt für syrische Flüchtlingskinder aufgebaut. Sie wollen dabei helfen, die kulturell enorm reiche, aber vollkommen heruntergekommene Me­tropole im Norden wiederaufzubauen – in Privatinitiative, weil der Staat bei der Versorgung seiner Bürger versagt.