Berlin.

Acht Uhr morgens, am ersten Montag im Mai. In ganz Deutschland beugen sich die Abschlussklassen über dieselbe Abituraufgabe. Zwischen Alpen und Nordsee analysieren die Abiturienten dasselbe Gedicht. So könnte es aussehen, wenn sich 16 Bundesländer auf ein zentrales Abitur einigen könnten. Viele Eltern wünschen sich das – doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Der deutsche Lehrerverband fordert deswegen jetzt die Einführung eines „Kernabiturs“ mit bundesweit einheitlichen Prüfungen in Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache.

Die Forderung kommt nicht zufällig gerade jetzt: In wenigen Wochen bekommt der Abiturjahrgang 2018 seine Zeugnisse. Überall steht „Abitur“ drauf – doch nicht überall steckt auch dasselbe dahinter: Die Prüfungsregeln sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Das betrifft nicht nur das Abitur, sondern auch die Qualifizierungsphase davor, deren Noten zu zwei Dritteln in die Abiturnote einbezogen werden. Uneinheitlich ist dabei etwa die Gewichtung von mündlichen und schriftlichen Leistungen. Seit 2017 steht den Ländern zwar ein zentraler Aufgabenpool für Deutsch, Mathe, Englisch und Französisch zur Verfügung, doch die Länder können die Aufgaben verändern – und es gibt auch weiter ländereigene Aufgaben.

Verfassungsgericht beklagte mangelnde Vergleichbarkeit

„Die aktuelle Regelung mit einem zen­tralen Aufgabenpool schafft keine echte Vergleichbarkeit“, ­beklagt Heinz-Peter Meidinger vom Deutschen Lehrerverband. „Höchstens fünf bis sieben Prozent der Gesamtabiturnote eines Schülers werden durch den bundesweit vorgegebenen Teil bestimmt.“ Die Kritik ist auch deshalb so brisant, weil das Bundesverfassungsgericht erst im Dezember anlässlich seines Urteils zur Vergabe von Medizinstudienplätzen nach Numerus clausus (NC) die mangelnde Vergleichbarkeit der Abiturnoten beklagt hatte. Die Karlsruher Richter kritisierten, dass Abiturienten bei der Studienplatzvergabe „abhängig davon, in welchem Land sie ihre allgemeine Hochschulreife erworben haben, erhebliche Nachteile erleiden“.

„Wir brauchen eine Art Kernabitur, etwa in den Fächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache“, fordert Meidinger. Konkret: Alle Abiturienten bekommen in diesen Fächern dieselben Aufgaben und schreiben zur gleichen Zeit Abitur. „Nur so können wir echte Vergleichbarkeit herstellen.“ Die Mehrheit der Deutschen denkt ähnlich: Acht von zehn Bundesbürgern wünschen sich zentrale Abiturprüfungen.

Doch es reicht nicht, nur die Prüfungsaufgaben zu vereinheitlichen: Wenn der Lehrer in Leipzig die Ergebnisse anders bewertet als die Lehrerin in Lübeck, ist noch nichts gewonnen. „Dazu muss es einheitliche Bewertungsmaßstäbe geben“, so Meidinger. Diese sollten unabhängige Experten durch Stichproben bei Abiturarbeiten überprüfen. Und: Auch die Qualifizierungsphase in der Zeit vor dem Abitur müsse angeglichen werden – damit hinter dem Einser-Abitur in Berlin am Ende dieselbe Leistung steht wie hinter dem Einser-Abitur in Bayern. Um die Reform umzusetzen, schlägt der Lehrerverband einen Staatsvertrag zwischen den 16 Bundesländern vor.

Hinter dem Vorstoß des Lehrerverbands steht auch die Sorge, dass das Abitur entwertet wird, wenn die Länder die Prüfungen weiterhin in Eigenregie durchführen und bewerten. Bereits jetzt sei eine „Noteninflation“ zu beobachten, eine Steigerung der Zahl der Einser-Abiturienten, die nicht durch Leistungen, sondern durch politischen Druck entsteht. In Berlin habe sich die Zahl der 1,0-Abschlüsse seit 2006 versechsfacht, in Thüringen habe fast die Hälfte heute eine Eins vor dem Komma, auch in Bayern sei die Zahl größer geworden, sagte Verbandschef Heinz-Peter Meidinger der „Augsburger Allgemeinen“.

Kultusminister wollen Vielfalt bei Prüfungen erhalten

Die Lehrergewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stellte sich am Montag ausdrücklich „gegen Pläne, das Abitur zu zentralisieren“. Die Vergleichbarkeit werde bereits durch die gemeinsamen Leistungsstandards der Kultusministerkonferenz erreicht, sagte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe dieser Redaktion. „In der Abiturprüfung soll sich zeigen, dass eine vertiefte Allgemeinbildung und Studierfähigkeit vermittelt wurde. Prüfungen sollten nicht vereinheitlicht werden, sondern Wahlmöglichkeiten und Schwerpunktsetzungen enthalten.“

Die Kultusminister der Länder wollen vorerst bei ihrem Kurs bleiben – und das heißt: das Prinzip „Aufgabenpool“ beibehalten und möglicherweise auf weitere Fächer ausdehnen. „Dieser Weg hat sich bewährt und ermöglicht einerseits Vielfalt in der schulischen Bildung und gleichzeitig gemeinsame, vergleichbare und hohe qualitative Anforderungen an das Abitur“, sagte der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Helmut Holter (Linke), dieser Redaktion. Es werde nun geprüft, „wie wir diesen Weg weitergehen können“, so der thüringische Bildungsminister.