Berlin. Nach Angriff in der Vorwoche protestierten Tausende gegen Judenfeindlichkeit. Ein Demonstrant wird bespuckt, seine Israel-Fahne entrissen

Es sollte eine Aktion der Solidarität, für mehr Menschlichkeit im täglichen Miteinander werden. Als Zeichen gegen den Antisemitismus sind am Mittwoch in zahlreichen deutschen Städten, darunter auch in Nordrein-Westfalen, Menschen mit der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung, der Kippa, auf die Straße gegangen. In Berlin wurden die Kundgebungen allerdings von einem neuen Übergriff überschattet.

So attackierten bei einer Kundgebung am Hermannplatz im Berliner Bezirk Neukölln Männer zwei Demonstranten. In der Gegend um den Platz leben viele arabischstämmige Menschen. Auf einem Video, das vom Verein Jüdisches Forum ins Internet gestellt wurde, stehen zwei Berliner, die ein „Zeichen des Friedens und der Toleranz“ setzen wollen, auf dem Hermannplatz. Keine Minute, nachdem sie ihre Solidarität mit dem Zeigen einer israelischen Fahne und einer Kippa als Kopfbedeckung zum Ausdruck gebracht haben, raunt ein etwa 50 Jahre alter Passant „Terrorist“ zu ihnen herüber. Ein Mann mit schwarzem Kapuzenpullover spuckt einem der beiden Berliner vor die Füße. Fünf Minuten später rennt eine Gruppe junger Männer, dem Augenschein nach arabischer Herkunft, auf die zwei Demonstranten zu. Ein etwa 25 Jahre alter Mann entreißt ihnen die Fahne. Weil sich die Teilnehmer bedroht fühlen, wird die Kundgebung kurz darauf abgebrochen. Polizisten nehmen nach dem Zwischenfall die Verfolgung auf und stellen den Mann.

Anlass für die deutschlandweiten Demonstrationen war die Attacke auf einen 21-jährigen Israeli und seinen Freund vor gut einer Woche in Berlin. Drei arabisch sprechende Männer hatten den Israeli, der eine Kippa trug, auf offener Straße antisemitisch beschimpft. Einer der Männer hatte auf den 21-Jährigen mit einem Gürtel eingeschlagen. Der mutmaßliche Täter, ein Palästinenser aus Syrien, der im Jahr 2015 als Flüchtling nach Deutschland kam, sitzt in Untersuchungshaft.

„Es reicht“, betonte der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, am Mittwoch. Ein „Weiter so“ dürfe es nicht geben. „Wir haben uns in Deutschland viel zu gemütlich eingerichtet. Ein bisschen Antisemitismus, ein bisschen Rassismus, ein bisschen Islam-Feindlichkeit – ist doch alles nicht so schlimm? Doch, es ist schlimm“, sagte Schuster. Zuvor hatte er auch ein klares Wort der Muslime gegen den Antisemitismus in den eigenen Reihen verlangt.

„Es ist fünf vor zwölf. Es wird in Berlin langsam ungemütlich. Aber noch haben wir nicht solche Verhältnisse wie in Frankreich oder Belgien“, sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sagte: „Antisemitismus hat in unserer Stadt keinen Platz.“ Der Unionsfraktionschef im Bundestag, Volker Kauder, betonte, Deutschland akzeptiere den Antisemitismus nicht. „Diejenigen, die hier leben wollen, müssen das auch wissen.“

Im Berliner Stadtteil Charlottenburg hatten sich am Mittwochnachmittag eintausend Menschen zur Solidaritätskundgebung „Berlin trägt Kippa“ angemeldet, aber schon vor Beginn der Veranstaltung vor einem jüdischen Gemeindehaus zeichnete sich ab, dass es deutlich mehr Teilnehmer werden würden. Man sah Israel-Fahnen im Wind wehen, viele Menschen trugen eine Kippa.

Zu den jüngsten antisemitischen Vorfällen in Deutschland meldete sich auch die Ehefrau von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), Elke Büdenbender, zu Wort. Sie sagte am Dienstag zu Berichten, dass sich Juden in Deutschland nicht mehr mit Kippa auf die Straße trauen: „Das entsetzt mich sehr.“ Büdenbender forderte ein konsequentes Durchgreifen gegen die Täter. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sagte: „Jüdinnen und Juden müssen in Deutschland sicher leben können – das ist nicht verhandelbar.“ Giffey äußerte sich besorgt über ein Anwachsen antisemitischer Tendenzen „auch von Zuwanderern“.

Überlebende des Holocausts im Internationalen Auschwitz Komitee begrüßten die Solidaritätsges­ten wie „Berlin trägt Kippa“ gegenüber jüdischen Menschen. Der Exe­kutiv-Vizepräsident des Komitees, Christoph Heubner, dankte allen Teilnehmern dieser Demons­trationen „für die Klarstellung, die ihre Haltung ausdrückt, und die Ermutigung, die von ihrer Teilnahme ausgeht“. Juden sollten gerade in deutschen Städten gefahrlos leben können.