Tel Aviv. Der jüdische Staat feiert 70. Geburtstag. Das Land hat sich prächtig entwickelt. Doch die Bürger leben noch immer unter existenzieller Bedrohung – von innen und außen

F-15-Kampfjets im Dog Fight, Leuchtfackelabschuss und das Donnern des Düsenantriebs. Ausgerechnet in diesem Jahr war das für viele Menschen zu viel. Hunderte besorgte Bürger in Tel Aviv und Umgebung riefen den Notdienst, andere fragten in den sozialen Medien, ob das nun schon der Krieg sei.

Dabei hatten die Maschinen der israelischen Luftwaffe in der vergangenen Woche nur für die große Flugschau trainiert. Am heutigen Donnerstag werden sie, wie an jedem Unabhängigkeitstag, die Küste der israelischen Metropole entlangfliegen und der Bevölkerung damit Stärke und Abwehrbereitschaft des Landes demonstrieren. Es ist nur ein Teil der Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag des modernen jüdischen Staates. Außerdem auf dem Programm: eine 70 Kilometer lange Beachparty, Lichtshows, Tänze, Konzerte und die Fackelzeremonie auf dem Herzlberg in Jerusalem, bei der Benjamin Netanjahu nun auch ein Licht anzünden soll. Vorher hatte sich der Premier einen Streit mit Knesset-Sprecher Juli Edelstein über das Rederecht geliefert.

Bevölkerung ist auf über 8,8 Millionen gewachsen

„Am Tag vor der Feier gedenken wir traditionell der Gefallenen und der Opfer“, erklärt Uzi Dayan, „daran gibt es zwar immer wieder Kritik, aber gerade für mich ist das richtig.“ Uzi Dayan ist der Neffe des legendären Generalstabschefs, Außen- und Verteidigungsministers Mosche Dayan. Der Generalmajor der Reserve leitete zu Beginn des letzten Jahrzehnts den Nationalen Sicherheitsrat. Als David Ben Gurion 1948 die Unabhängigkeitserklärung im damaligen Kunstmuseum von Tel Aviv verlas, war Uzi Dayan gerade 130 Tage alt. Einen Monat zuvor war sein Vater im Kampf gegen die Araber gefallen.

„Unser Staat ist im Krieg geboren. Am Unabhängigkeitstag fühle ich mich deshalb zugleich traurig, glücklich und privilegiert“, so Dayan. Die Entwicklung seines Landes ist für ihn, wie für viele andere Zeitzeugen, ein Wunder. „Es ist ein Wunder, dass das jüdische Volk in seine alte Heimat zurückgekehrt ist. Es ist ein Wunder, dass die hebräische Sprache wiederbelebt wurde. Und es ist ein Wunder, dass wir heute wahrscheinlich das stabilste Land in der Region sind.“ Die Bevölkerung ist von 800.000 auf über 8,8 Millionen gewachsen. Das heutige Israel ist ein Staat mit moderner Infrastruktur, führend in Wissenschaft und vielen Bereichen der Wirtschaft. Außerdem ein Staat, in dem über allem die militärische Macht steht. In den Jahren 1948 und 1949 setzte sich die im Aufbau befindliche Armee erfolgreich gegen die vereinigten arabischen Heere zur Wehr. Später feierte das Land weitere Triumphe, den bedeutendsten im Sechs-Tage-Krieg von 1967, als die Verteidigungsstreitkräfte Ost-Jerusalem, das Westjordanland, die Golanhöhen und die Sinaihalbinsel eroberten.

Was hat die vielen Wunder ermöglicht? „Es gab hier von Anfang an keine Alternative zum Überleben. Nicht erst seit dem Holocaust wussten die Menschen, das der Weg zurück nach Europa versperrt ist. Aus der Not ist auch die Flexibilität der Menschen erwachsen“, sagt Richard Schneider, der über zehn Jahre Chefkorrespondent der ARD in Tel Aviv war und gerade sein Buch „Alltag im Ausnahmezustand“ über das Leben in Israel veröffentlicht hat.

„Für uns war nach dem Krieg klar, dass wir nur hier leben wollen. Wir waren dem Land ja auch kulturell seit unserer Geburt verbunden“, sagt Regina Steinitz. Die heute 87-Jährige überlebte den Holocaust mit ihrer Zwillingsschwester im Berliner Versteck. Ihr Ehemann Zwi Steinitz überstand die Lager Auschwitz, Buchenwald, Sachsenhausen und einen Todesmarsch, während seine ganze Familie ermordet wurde. Im Oktober 1948 trafen sich Regina und Zwi Steinitz im Kibbutz Netzer Sereni, heute leben sie im Norden von Tel Aviv. „Israel ist ja nun gar nicht mehr zu vergleichen mit dem Land, in dem wir damals angekommen sind“, sagt Regina Steinitz. Für die Entwicklung wären vor allem „Tatkraft und Opferbereitschaft“ verantwortlich gewesen, sagt sie – und der Wille, fremde Menschen zu akzeptieren: „Wir waren ja alle total verschieden.“

Viele Differenzen und Probleme wurden in 70 Jahren überwunden, andere sind zur existenziellen Bedrohung geworden, darunter die demografische Lage. In Relation immer weniger säkulare Bürger zahlen den Unterhalt für immer mehr streng religiöse. Auch der Anteil arabischer Bürger steigt. Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass erstmals mehr Araber als Juden zwischen Mittelmeer und Jordan leben. Die entscheidende Frage ist also, ob eine Abgrenzung zwischen Israelis und Palästinensern, möglicherweise auch eine Zwei-Staaten-Lösung, ob also die Überwindung der Besatzung doch noch gelingt.

Der Konflikt mit den Palästinensern beeinflusst schon jetzt das politische System, immer mehr anti-liberale Tendenzen werden sichtbar. Das wiederum bedroht die Einheit der Juden in aller Welt. „Um diese zu sichern, müssen wir zum Beispiel auch flexibler werden, wenn es darum geht, wer jüdisch ist“, spricht Uzi Dayan die strengen religiösen Regeln des Oberrabbinats an.

Die Solidarität der Diaspora mit Israel wird umso wichtiger in Zeiten einer wachsenden Bedrohung durch den Iran. Experten gehen davon aus, dass ein offener Krieg gegen den Mullahstaat und seine verbündeten Milizen in Syrien und dem Libanon unausweichlich sein wird. Ein Krieg, in dem Tausende Raketen auf Israel fallen könnten, in dem die israelische Luftwaffe massiv zurückschlagen müsste.

Die Machtausdehnung des Iran im Nahen Osten hat in den vergangenen Jahren immerhin dazu geführt, dass Israel inoffizielle Beziehungen zu den früher verfeindeten arabischen Golfstaaten geknüpft hat. „Die Welt hat begriffen, dass der Konflikt mit den Palästinensern nicht die wichtigste Auseinandersetzung in der Region ist“, sagt Uzi Dayan. Und er spielt damit auch auf die neue Linie der US-Regierung unter Donald Trump an.