Gaza .

Er sieht aus wie ein Stück Altmetall, doch für die jungen Männer im Protestcamp ist es ein Symbol für Triumph und Widerstandsgeist: Nato-Draht, der zur Vorfeldsicherung ausgerollt wurde und nun verheddert auf ein Zeltdach gepflanzt ist. „Den haben wir vom Zaun weggeholt, von den Juden“, ruft ein Halbwüchsiger stolz.

In der schmalen, staubigen Steppe zwischen den Ausläufern der Stadt Chan Junis und der israelischen Grenzanlage zum Gazastreifen versammeln sich auch unter der Woche, zwischen den großen Protesttagen, Hunderte Palästinenser. Um die Zeit totzuschlagen oder zumindest das Gefühl zu bekommen, dass sie endlich etwas bewirken. Auch wenn sie dabei ihr Leben riskieren. In den ersten drei Wochen des sogenannten Marsches der Rückkehr wurden nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums mehr als 30 Menschen getötet und Tausende verletzt. Die Proteste sollen bis zum 15. Mai dauern. Anlass sind Feiern zum 70. Jahrestag der Gründung Israels. Die Palästinenser begehen den 15. Mai als „Nakba-Tag“ („Tag der Katastrophe“), weil im ersten Nahost-Krieg 1948 rund 700.000 Palästinenser flohen oder vertrieben wurden.

Die israelische Armee betont, dass man gegen Randalierer, Terroristen und mögliche Eindringlinge vorgehen müsse. Viele Beobachter kritisieren den umfangreichen Einsatz von scharfer Munition. „Jedes Mal, wenn einer von uns getroffen wird, kehren wir gestärkt zurück“, sagt ein 27-Jähriger namens Ahmed, der eine Guy-Fawkes-Maske trägt – jene Gesichtsverkleidung, die dem katholischen Offizier mit dem markanten Musketierbart nachempfunden ist, der am 5. November 1605 das britische Parlament und den König in die Luft sprengen wollte. Heute ist Guy Fawkes ein Rollenmodell für all jene, die mehr oder weniger radikal gegen die Autoritäten kämpfen. Ahmed ist arbeitslos, wie fast alle hier im Camp, insgesamt 60 Prozent der jungen Menschen in dem Küstengebiet. „Wir wollen zurück auf unser Land“, erklärt er. In seinem Fall sei das Jaffa, die Heimatstadt seiner Vorfahren. Die liegt seit 70 Jahren in Israel. Ahmed hat sie niemals betreten, er hat Gaza überhaupt noch nie verlassen. Von seinem Platz aus, 200 Meter von der Grenze entfernt, sieht man die schweren Baumaschinen, mit denen die Israelis ihre Sperranlage tief in den Boden treiben, um Terrortunnel zu blockieren und den Gazastreifen noch gründlicher abzuriegeln.

Ahmed sagt: „Meine Mutter wäre glücklich, wenn ich als Märtyrer sterbe.“ Seine Worte klingen seltsam hohl, obwohl sie ernst gemeint sind. Sie klingen hohl, weil sie unrealistisch wirken im Angesicht der haushohen israelischen Überlegenheit. Sie klingen hohl, weil man aus ihnen heraushört, dass sie vor allem auf Verzweiflung und nicht auf Überzeugung basieren.

Omar Shaban ist Gründer und Direktor von PalThink, einem Institut für politische Analysen in Gaza-Stadt. 1996 hat er als unabhängiger Kandidat an den ersten Parlamentswahlen in Palästina teilgenommen. Seitdem ist so ziemlich alles schiefgelaufen, was schieflaufen konnte in seiner Heimat. Doch auch nach verlustreichen Kriegen, nach elf Jahren Diktatur der radikalislamischen Hamas und israelisch-ägyptischer Blockade will Shaban nicht aufhören, an eine bessere Zukunft zu glauben. Es scheint kein Zufall, dass sein Büro im vierten Stock des Dream-Buildings liegt. „Es reicht nicht mehr, immer nur von der ‚Katastrophe‘ in Gaza zu sprechen“, meint er, „wir müssen das mit Fakten belegen: mehr Arbeitslosigkeit, mehr Armut, mehr Kriminalität, mehr Pleiten, mehr Kranke, weniger Heiraten. Es gibt so viele Indikatoren dafür.“

Aber ein Teil dieser Probleme sei eben auch selbst verschuldet. „Zum Beispiel unser Bildungssystem oder die Geburtenrate, die hier so hoch ist wie fast nirgendwo sonst auf der Welt“, betont Shaban. Seine Söhne studieren in Frankreich, im vergangenen Jahr lebte er selbst zwei Monate als Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Eigentlich bin ich blöd, dass ich immer wieder hierher zurückkehre“, sagt er. Aber er glaube nun mal an das Potenzial von Gaza und die Leistungsfähigkeit seiner Mitbürger: „Wir waren früher kein Fall für Entwicklungshilfe, wir müssen das auch in Zukunft nicht sein. Aber wir brauchen nun eben erst mal ein bisschen Hilfe.“ Dazu gehört zunächst eine verlässliche Stromversorgung. „Mindestens zehn Stunden am Tag. Ohne Strom funktioniert doch überhaupt nichts“, so Shaban. Die Lampen in seinem Büro leuchten nur, weil unten im Haus ein Generator läuft, wie in so vielen anderen Gebäuden in Gaza. Man könnte ein Gasfeld vor der Küste erschließen, einen neuen Hafen oder riesige Solaranlagen bauen, meint Shaban. Zunächst müsse aber die Blockade gelockert werden: „Die Menschen müssen sich frei bewegen können.“

In der israelischen Regierung ist man über die Lage alarmiert

Hierfür wäre aber die nationale Einheit nötig, die Versöhnung zwischen der Hamas und der Autonomiebehörde (PA) von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Doch nach einem Attentatsversuch auf Premier Rami Hamdallah vor einem Monat und nach den Sanktionsdrohungen von Abbas, der sofort die Macht in Gaza übernehmen will, sieht es dafür gerade düster aus. Immerhin habe der „Marsch der Rückkehr“ Gaza international wieder auf die Tagesordnung gebracht, so Shaban. Den Titel des Protests müsse man nicht wörtlich nehmen. Es sei nur darum gegangen, einen Slogan zu finden, der alle vereint. „Warum soll man warten, bis die Situation explodiert, warum kann man nicht vorher etwas unternehmen? Das müssen doch auch die Israelis verstehen.“

Manche Aussagen aus Jerusalem lassen darauf schließen, dass die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wegen der Lage in Gaza zumindest alarmiert ist – nicht nur wegen des Protests, sondern auch wegen des drohenden Kollapses der Grundversorgung. Eine entscheidende Rolle dabei spielt UNRWA, die Hilfsorganisation der Vereinten Nationen für die palästinensischen Flüchtlinge, die in Gaza 1,3 Millionen Menschen mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung und Lebensmittelhilfen bedient. Weil die USA der Organisation in diesem Jahr 300 Millionen Dollar gestrichen haben, könnte der Betrieb bald zusammenbrechen, warnt Matthias Schmale, deutscher UNRWA-Leiter in Gaza. „Es ist ein Fehler anzunehmen, dass dieser Protest nur von der Hamas organisiert wird“, sagt Schmale über den „Marsch der Rückkehr“. „Die Menschen sind ja auch von ihrer Führung schwer enttäuscht, die Organisatoren könnten schnell die Kontrolle verlieren.“ Um zumindest etwas Druck abzulassen, müsse man die Blockade erheblich lockern, fordert auch er: „Wir brauchen mehr Arbeitsgenehmigungen, die Fischereizone muss von sechs auf neun Meilen erweitert werden.“

Sollte es dazu kommen, könnte Omer al-Nahal vielleicht endlich eine Wohnung mieten für sich, seine kleinen Töchter Raida und Samara und seine Frau Warde. Die beiden sind seit fünf Jahren verheiratet, wohnen aber noch immer getrennt bei ihren Eltern. Omer steht in einer schmalen, schmutzigen Gasse im Flüchtlingslager al-Shati in Gaza-Stadt und nippt an seinem Salbeitee. Bis vor drei Jahren war er noch Fischer, aber dann wurden die Kosten zu hoch und der Fang zu wenig. Jetzt habe er nur noch manchmal einen Gelegenheitsjob, erzählt Omer: „Auf einer Baustelle, ein-, zweimal in der Woche, wenn ich Glück habe.“ Die Politik ist ihm schon lange egal. Er sagt: „Ich will doch bloß ein besseres Leben.“