Brüssel. EU-Beitritt der Türkei rückt in weite Ferne. Brüssel fordert die Aufhebung des Ausnahmezustands und kritisiert Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit

Erst vor drei Wochen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Tür der Europäischen Union gerüttelt: Die Türkei strebe weiterhin eine Vollmitgliedschaft in der EU an, drängte Erdogan beim Gipfeltreffen mit führenden EU-Politikern im bulgarischen Seebad Warna. „Der Beitritt zur EU bleibt unser strategisches Ziel“, sagte Erdogan. Doch jetzt folgt aus Brüssel eine Abfuhr für den zunehmend autoritär waltenden Präsidenten: Die EU-Kommission übt in einem neuen Bericht schwere Kritik an den Verhältnissen in der Türkei und macht klar, dass ein EU-Beitritt des Landes in sehr weite Ferne gerückt ist.

Die Türkei habe „große Schritte weg von der EU gemacht“, heißt es im noch unveröffentlichten Fortschrittsbericht der Kommission über den Stand der EU-Erweiterungspolitik, der dieser Zeitung vorliegt. Es gebe in der Türkei „gravierende Rückschritte“ bei der Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten.

In dem Bericht, den die Kommission am Dienstag verabschieden will, wird die Konsequenz klar beschrieben: „Unter den derzeit vorherrschenden Umständen wird die Öffnung neuer Verhandlungskapitel nicht in Betracht gezogen.“ Stillstand statt Beitritt. Die Botschaft nach knapp 13 Jahren Beitrittsverhandlungen ist eindeutig: Ohne eine Rückkehr der türkischen Führung zur Rechtsstaatlichkeit wird das Land niemals Mitglied der EU.

Als einen ersten Schritt für eine notwendige Umkehr fordert die Kommission, die Türkei solle den seit fast zwei Jahren geltenden Ausnahmezustand „ohne Verzögerung aufheben“. Der Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verhängt worden war, beschneide die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber und greife substanziell in Bürgerrechte und politische Rechte ein.

Der Report bezeichnet die Türkei zwar als „Schlüsselpartner für die EU“ und bestätigt auch den Status eines Beitrittskandidaten. Aber die Kommission kritisiert vor allem das Ausmaß der Maßnahmen, die die türkische Führung nach dem gescheiterten Putsch eingeleitet hat.

Seit dem Beginn des Ausnahmezustands seien 150.000 Menschen in Gewahrsam genommen, 78.000 inhaftiert und 110.000 Staatsbedienstete entlassen worden. Mehr als 150 Journalisten säßen im Gefängnis, zusammen mit Schriftstellern, Anwälten und Abgeordneten. Die Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten hätten die Unabhängigkeit der Justiz ebenso untergraben wie Verfassungsänderungen, die die Gewaltenteilung schwächten.

Positiv wird in dem Bericht die Migrationspolitik der Türkei hervorgehoben: In „herausragenden Anstrengungen“ versorge die Türkei mehr als 3,5 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge. Die EU bleibe verpflichtet, die Türkei dabei zu unterstützen. Die Kommission bekräftigt den Vorschlag, die Zollunion zwischen EU und Türkei auszuweiten. So prüfe sie einen Arbeitsplan, wie die ausstehenden Vorgaben für eine Visa-Liberalisierung erfüllt werden könnten.

In dem Fortschrittsbericht werden auch die Beitrittsbemühungen der sechs Staaten des westlichen Balkans bewertet – stellenweise durchaus kritisch, aber mit einem insgesamt positiveren Tenor als bei der Türkei. Wichtigste Botschaft: Die formellen Beitrittsverhandlungen, die mit Montenegro und Serbien geführt werden, will man auf Mazedonien und Albanien ausweiten.