Berlin. Am 11. April vor 50 Jahren fielen die Schüsse auf Rudi Dutschke, ein Schlüsseldatum der 68er-Bewegung. Ihre Irrtümer und ihre Erfolge hallen bis heute nach

Er ist jetzt Opa. Vierfach. Joschka Fischer schiebt einen blau-weiß gestreiften Langarmbody auf dem Tisch hin und her und lobt den Leihservice für Babykleidung. Hätte es das bloß früher gegeben, zu seiner Zeit. „Alles neu kaufen, das ging nicht“, erinnert sich Fischer. Der Ex-Außenminister ist nach Hamburg gekommen, um für die Geschäftsidee von Tchibo zu werben. Einen langen Weg legte er zurück: vom „Sponti“ zum Wirtschaftsberater, von den Straßenkämpfen in Frankfurt zum Repräsentationstermin am Rödingsmarkt. Ist das der Weg der 68er-Bewegung?

Hans-Christian Ströbele, wie Fischer ein Grüner, ist bis heute mit seinen 78 Jahren der Inbegriff des Altlinken. Und anders als Fischer ein Veteran, der gern vom Krieg erzählt: „Wir waren so überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ Als junger Anwalt verzichtete Ströbele auf eine Rentenversicherung: „Brauche ich nicht. Bis ich so alt bin, hat die Revolution gesiegt und ich krieg ne Revolutionsrente.“ Tom Koenigs, Bankierssohn, Ur-Grüner, später UN-Sonderbeauftragter in Afghanistan, schenkte sein Erbe chilenischen und vietnamesischen Freiheitskämpfern. Es fühlte sich richtig an in diesem sagenhaften Jahr, das bis heute nachhallt. Warum sonst sollten sich viele noch 50 Jahre später an ihm abarbeiten? CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt fordert eine „konservative Revolution“ – „wir müssen 68 hinter uns lassen“. Jörg Meuthen, Chef der AfD, will „weg vom links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland“.

Den realen Sozialismus fanden viele „zum Abgewöhnen“

1968 war ein Jahr wie ein Amoklauf: gewalttätig, schockierend. Im März töteten US-Soldaten beim Massaker von My Lai über 500 vietnamesische Zivilisten, aus Protest folgten im April in Frankfurt Anschläge auf zwei Kaufhäuser, Taten der späteren RAF-Terroristen Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Im selben Monat wurde der Bürgerrechter Martin Luther King erschossen, am 3. Mai besetzten Studenten die Pariser Universität Sorbonne, im Juni fiel US-Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy wie zuvor sein Bruder John F. einem Attentat zum Opfer. Im August wurde der Prager Frühling gewaltsam niedergeschlagen, das Pendant zur Freiheitsbewegung im Westen, im November ohrfeigte die Journalistin Beate Klarsfeld auf offener Bühne Kanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU), für sie ein „Nazi“.

Ein deutsches Schlüsseldatum ist der 11. April 1968: Das Attentat auf Rudi Dutschke, den Wortführer des Studentenprotests, führte zu einer Eskalation der Gewalt. Die Außerparlamentarische Opposition (Apo) hatte indes früher ihren Anfang genommen. Der Moment der Politisierung, der Radikalisierung, war für viele der 2. Juni 1967, der Tag, an dem der Student Benno Ohnesorg vom Polizisten Karl-Heinz Kurras in Berlin erschossen worden war. „All die Lügen danach haben mein Gerechtigkeitsgefühl dermaßen verletzt“, so Ströbele, „dass ich Tage später Horst Mahler, das war der Apo-Anwalt, angeboten habe, bei ihm als Referendar zu arbeiten.“ Die Bewegung war einerseits lokal, in Deutschland begrenzt auf Frankfurt am Main und Berlin, genauer: Charlottenburg. In Kudamm-Nähe, in der Wielandstraße, traf man sich im Republikanischen Club wie in einem englischen Salon. Bei gutem Wein ließ sich das Elend der Welt besser diskutieren. Andererseits war die Bewegung global, von Berkeley bis Prag. Was die Studenten auf die Straße brachte, waren Neokolonialismus und Vietnamkrieg. „Wir sahen uns im Krieg an der Seite der Vietcong, wir saßen abends vor dem Fernseher und ballten die Faust.“ Unfassbare Grausamkeiten, begangen nicht von irgendjemand, sondern von „amerikanischen Freunden“. Und doch hält Ströbele die 68er nicht für anti-amerikanisch. „Das ist absoluter Blödsinn.“ Der Protest kam ja aus den USA, einschließlich Aktionsformen wie Sit-in oder Blockaden.

Für den Historiker Heinrich August Winkler liegt die Ironie darin, dass die Republik letztlich pluralistischer, westlicher wurde. Amerikanischer. Es war zwar eine linke Bewegung, ihre Keimzelle der Sozialistische Deutsche Studentenbund, aber den real existierenden Sozialismus fanden viele „zum Abgewöhnen“. Dutschke kam ja aus der DDR, wo er nicht studieren durfte, weil er den Wehrdienst verweigert hatte.

Spezifisch deutsch war die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit. „Vorher war das kein Thema, weder zu Hause noch in der Schule“, erzählt Ströbele. Später als Student erkannte er: „Überall waren noch Nazis im Amt, an den Unis, sogar in der Regierung und im Bundesgerichtshof.“ Die Abgrenzung von der Generation der Eltern, der gesellschaftliche Mief, reformunwillige Universitäten, „es war eigentlich unvermeidlich, dass eine Abstimmung auf der Straße mit den Füßen gegen all diese Missstände kommt“, meint Ströbeles früherer Anwaltskollege Otto Schily. Die 68er haben die Gesellschaft fundamental verändert, zumindest gaben sie den Anstoß dazu. Frauen durften damals nicht ohne Zustimmung ihres Mannes arbeiten. Die Erziehung war autoritär – undenkbar, dass Kinder ihre Eltern beim Vornamen nennen durften –, Sexualität tabuisiert. „Für uns galten solche Zwänge nicht, auch nicht die Kleinfamilie und die autoritäre Erziehung.“ Jahrzehnte später mussten sich Galionsfiguren wie Daniel Cohn-Bendit dem Vorwurf stellen, sie hätten den sexuellen Missbrauch von Kindern verharmlost – sexuelle Freiheiten auf Kosten Schwächerer?

Alice Schwarzer spricht vom Vorfrühling der Frauenrevolte

Während Ströbele dem alternativen Milieu treu blieb, zogen sich andere wie am Flaschenzug nach oben: Schily wurde Innenminister, Fischer Außenminister. Wolfgang Roth, der zur Zeit der Studentenunruhen Marxismus-Kurse gab, wurde Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank – im Kapitalismus angekommen. Apo-Anwalt Mahler nahm den umgekehrten Weg, er landete in der rechtsextremen Szene und im Knast.

Ohne die 68er sind Protestgruppen wie die Atomkraftgegner und die Friedensbewegung kaum vorstellbar. Die Feministin Alice Schwarzer, die 1968 in Paris mitlief, hat die Zeit als „Vorfrühling der Frauenrevolte“ in Erinnerung, wie sie schrieb. Mit wenigen Ausnahme wie der Journalistin und späteren Terroristin Ulrike Meinhof waren es auffällig Männer, die den Ton angaben und Karriere machten, gerade bei den Grünen, wo an die revolutionäre Kraft der Masssen glaubende „Spontis“ wie Fischer, aber auch Mitglieder von kommunistischen Gruppen wie Jürgen Trittin und Winfried Kretschmann eine Heimat fanden. Auch Ströbele saß von 1985 bis 1987 und von 1998 bis 2017 im Bundestag.

Sie hätten ein falsches oder kein Verhältnis zum Rechtsstaat gehabt, sagte Fischer im „Zeit“-Magazin zu den Irrungen und Verirrungen der 68er. Hätten sie die Bedeutung des Rechtsstaates erkannt, „es hätte uns 1968 vor vielen Fehlern bewahrt“. Letztlich sei das Verfahren, der Weg, wie man das Gute anstrebe, „mindestens so wichtig wie das Ziel des Guten selbst“, so Fischer weiter.

Ströbele räumt ein: „Die Revolution, die wir wollten, haben wir nicht erreicht. Wir haben weder den Bundestag abgeschafft noch die Regierung gestürzt.“ Dass dieser Staat nicht seiner sei, sagte Ströbele bei seiner Abschiedsrede Ende Juni 2017 im Parlament aber auch, „dieser Meinung bin ich heute nicht mehr“.