Tel Aviv.

So viele Todesopfer hat es in Gaza seit dem letzten Krieg 2014 nicht mehr gegeben: Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums sind bei den Ausschreitungen an der Grenze zu Israel am Osterwochenende 18 Menschen getötet und mehr als 1400 verletzt worden. Die Proteste sollen bis zum 15. Mai dauern. Die wichtigsten Fragen:

Was ist passiert?

Seit Monaten hatten die Organisatoren den „Marsch der Rückkehr“ im Gazastreifen an der Grenze zu Israel geplant. Die Proteste sollten an sechs verschiedenen Orten in mindestens 700 Meter Entfernung zum Grenzzaun stattfinden. Ein Großteil der etwa 30.000 Menschen hielt sich daran und war friedlich. Doch dann rannten immer wieder junge Demonstranten zum Sicherheitszaun, um dort Fahnen aufzuhängen und später Steine zu werfen. Nach Angaben der israelischen Armee gab es Versuche, den Zaun zu beschädigen. Demonstranten hätten Brandsätze geworfen und Gummireifen angezündet, hieß es. Sogar von „Terrorattacken“ war die Rede. Die Israelis hatten mehr als 100 Scharfschützen an der Grenze stationiert, setzten Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. „Wir sind einer gewalttätigen Demonstration gegenübergestanden“, sagte ein Armeesprecher, man sei mit „gezielten Schüssen“ dagegen vorgegangen. Videos von Palästinensern sollen dagegen zeigen, wie unbewaffnete, fliehende Demonstranten getroffen wurden, einer von ihnen tödlich. 750 Palästinenser seien durch israelische Kugeln verwundet worden, hieß es in Gaza.

Was wollen die Palästinenser erreichen?

Der Beginn des Protests wurde auf den „Tag des Bodens“ Ende März terminiert, mit dem die Palästinenser seit 1976 an Enteignungen erinnern. Die Demonstrationen sollen andauern – und zwar bis zum 15. Mai. In sechs Wochen feiern die Israelis zum 70. Mal ihren Unabhängigkeitstag. Für die Palästinenser ist dies der „Nakba“-Tag, der „Tag der Katastrophe“, an dem sie ihre Vertreibung vor 70 Jahren beklagen. Ein Großteil der rund zwei Millionen Einwohner in Gaza sind Flüchtlinge oder deren Nachkommen aus dem Gebiet des heutigen Israel. Ihre Lage in Gaza ist seit langer Zeit katastrophal. Die Vereinten Nationen warnen, dass der Küstenstreifen in wenigen Jahren unbewohnbar sein werde. Schon jetzt liegt die Arbeitslosenquote bei knapp 50, die Armutsquote bei 80 Prozent. Seit der gewaltsamen Machtübernahme durch die Hamas vor elf Jahren blockiert Israel die 60 Kilometer lange Grenze, den Luftraum und das Meer bis auf wenige Kilometer vor der Küste. Auch der Grenzübergang zu Ägypten ist seit Jahren nur sporadisch geöffnet. Außerdem hat die im Westjordanland regierende Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas Zahlungen für Treibstoff, Strom und Gehälter gestoppt. „Beim ‚Marsch der Rückkehr‘ ging es gar nicht so sehr um Rückkehr“, sagt der Politikwissenschaftler Osama Antar aus Gaza-Stadt im Gespräch mit dieser Zeitung. „Wir wollten vielmehr auf unsere miserable Lage aufmerksam machen.“

Wie erklärt sich Israels Reaktion?

Bereits in den Tagen vor Beginn der Proteste hatte es mehrere Versuche von Palästinensern gegeben, nach Israel einzudringen. Zwei Männern, bewaffnet mit Granaten und Messern, war dies gelungen. Sie wurden erst nach 20 Kilometern nahe einer Armeebasis gestoppt. Möglicherweise haben die darauffolgenden Medienberichte die Armee zu einem harten Vorgehen motiviert. Tatsächlich gehörte der Einsatz von scharfer Munition auch schon in der Vergangenheit zu den Optionen der Sicherheitskräfte beim Umgang mit Demonstrationen, die in gewaltsame Ausschreitungen münden können. Immer wieder wurden in den vergangenen Jahren junge Palästinenser erschossen, die selbst keine Feuerwaffen bei sich trugen. Eran Lerman, früher stellvertretender Direktor von Israels Nationalem Sicherheitsrat, sagt: „Es gibt Situationen, in denen ein Nahkampf unbedingt vermieden werden muss. Auch weil dann die Zahl der Opfer noch viel höher wäre.“ Der Durchbruch von Tausenden durch den Hightech-Zaun sei ein Horrorszenario für Politik und Armee. Lerman: „Stellen sie sich doch mal vor, darunter wären fünf bewaffnete Männer, die es in einen Kibbuz schaffen. Die würden dort ein Blutbad anrichten.“

Wie verhalten sich die arabischen
Staaten?

Es war wieder einmal der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der Israel am lautesten kritisierte. Bereits am Sonnabend sprach er von einem „Massaker“, um dann am Sonntag nachzulegen: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sei ein „Besatzer“ und „Terrorist“. Israels Regierungschef schoss verbal zurück, man werde sich keine Moralpredigten anhören von jemandem, der „eine Zivilbevölkerung ohne Unterscheidung bombardiert“. Überraschender als Erdogans Empörung war die Reaktion der arabischen Staaten. Kuwait versuchte zwar, eine Verurteilung Israels im Sicherheitsrat zu erreichen, die von den USA blockiert wurde. Aber Saudi-Arabien hielt sich auffällig zurück. Ein Sondergipfel der Arabischen Liga sei nicht nötig, entgegnete man aus Riad. Beobachter vermuten, dass sich der Ölstaat aus begrenzten regionalen Konflikten heraushalten möchte, weil man in anderen Fragen auf Kooperation mit den USA – und Israel – baue. Die meisten Golfstaaten betrachten Israels Vorgehen gegen iranische Ziele in Syrien mit Wohlwollen. Die arabischen Herrscher setzen gemeinsam mit den USA und Israel auf eine Kündigung – oder zumindest Verbesserung – des Nuklear-Deals mit Teheran. Nachrichtendienstliche Kontakte mit Israel werden ständig ausgebaut. Bei der Entwicklung dieser Allianz ist der palästinensische Konflikt nur störend.

Wie geht es weiter?

Alle Seiten warten auf den nächsten Freitag, den muslimischen Feiertag, wenn wieder Tausende im Grenzgebiet erwartet werden. Lerman, Ex-Vize-Direktor von Israels Nationalem Sicherheitsrat, glaubt, dass das harte Vorgehen einen Abschreckungseffekt habe. Armeesprecher Ronen Manelis warnte, dass man im Falle weiterer Anschläge „im Schatten von Protesten“ nicht nur im Grenzgebiet konsequent reagieren werde. Einen „massiven Durchbruch“ am Zaun werde man nicht zulassen, so der Sprecher. Einen erneuten Einsatz von scharfer Munition schließt die Armee nicht aus.