London. Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union ist wohl unvermeidlich. Doch soll er hart oder weich werden?

„Brexit Day“ naht. In einem Jahr, um zwölf Uhr Mitternacht am 29. März 2019, wird Großbritannien endgültig die Europäische Union verlassen haben. Nachdem im Juni 2016 eine knappe Mehrheit von 51,89 Prozent der Briten für den Austritt gestimmt hatte, reichte Premierministerin Theresa May neun Monate später den Scheidungsantrag in Brüssel ein. Seitdem steuert das Königreich unaufhaltsam auf den Abschied von Europa zu.

Unaufhaltsam? Eine kleine Schar von Optimisten will nicht daran glauben. Tony Blair, Labours einstiger und erfolgreichster Premierminister, kämpft darum, den Briten die Chance eines zweiten Referendums zu geben, mit dem sie ihre Entscheidung zurücknehmen können. Unterstützt wird er dabei von seinem Amtskollegen, dem ehemaligen Premierminister John Major, der, obschon ein Konservativer, von der „Diktatur der Mehrheit“ spricht, die im Fall des Brexit bemüht ist, das Land ins Unglück zu treiben. Und Nick Clegg, der Ex-Chef der Liberaldemokraten, hat ein Buch geschrieben – „Wie der Brexit zu stoppen ist“ – und verlangt ebenfalls ein erneutes Referendum.

Theoretisch möglich wäre ein Exit vom Brexit. Man könnte vorgezogene Neuwahlen durchführen, in denen eine der Parteien die Rücknahme des Brexit auf ihre Fahne schreibt und gewinnt. Oder eben: Die jetzige Regierung hält ein erneutes Referendum ab. Und gewänne. Damit hätte man ein Mandat, das erlauben würde, die Brüsseler EU-Kommission davon zu unterrichten, dass man den Austrittsantrag zurückzieht. Dann könnten sich die restlichen 27 Mitgliedsländer darauf verständigen, der Bitte stattzugeben. Signale in dieser Richtung hat es seitens des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk schon gegeben.

Doch es wird kaum dazu kommen. Eine solche umwälzende Entwicklung ist nur dann wahrscheinlich, wenn dem britischen Volk die negativen Konsequenzen eines Brexit in dramatischer Weise offenbar würden und zu einem allgemeinen Umdenken führten.

Aber von einem Meinungswechsel ist bisher nichts zu spüren. Die Umfragen belegen, dass das Land nach wie vor in etwa gleich große Lager von „Remain“ und „Leave“ geteilt ist. Und selbst diejenigen, die den Brexit für einen Fehler halten, denken, dass die Entscheidung nun einmal gefallen ist und der Volkswille respektiert werden sollte. Eine kürzliche Meinungserhebung des Instituts „BMG Research“ zeigte, dass 50 Prozent der Briten dem Statement zustimmen, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austreten und die „Kontrolle über seine Grenzen, Gesetze, Geld und seinen Handel“ zurückgewinnen soll. Nur 20 Prozent stimmten nicht zu.

Der Grund für das Ausbleiben eines Umdenkens: Die negativen Konsequenzen sind noch nicht in voller Schärfe eingetroffen. Das ist kein Wunder, denn der Brexit ist auch noch nicht eingetreten und wird aufgrund einer Übergangsphase erst ab dem Jahr 2021 voll durchschlagen können. Das heißt andererseits nicht, dass bisher keine ökonomischen Schäden eingetreten sind. Vor dem Referendum war das britische Wirtschaftswachstum um 0,6 Prozent höher als das durchschnittliche Wachstum der G7-Staaten. Im Jahr 2017 lag es um 0,9 Prozent niedriger. Das Pfund hat seit dem Referendum eine Abwertung von zehn Prozent erlitten. Und unter anderem deswegen ist die Inflationsrate um 1,7 Prozent gestiegen.

Wenn auch ein Exit vom Brexit mehr oder weniger ausgeschlossen werden kann, so ist doch der Kampf darum, wie der Brexit aussehen soll, nicht ausgefochten. Zwei Seelen ringen in Großbritanniens Brust: Soll es ein harter Schnitt oder ein weicher Brexit werden? Zu den Verfechtern des kompromisslosen Abschieds gehört der Abgeordnete Jacob Rees-Mogg. Er ist Vorsitzender der „European Research Group“ (ERG), einer 60 Mitglieder starken Gruppe innerhalb der Fraktion der Konservativen.

Von den Hinterbänken aus macht der Tory seiner Premierministerin das Leben schwer und verlangt, dass sie keinesfalls ihre „roten Linien“ aufweichen darf. Er meint damit: Großbritannien muss raus aus dem Binnenmarkt, raus aus der Zollunion und darf künftig auch nicht mehr die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes anerkennen. Das würde wahrhaftig einen harten Brexit bedeuten, denn Rees-Moggs Forderungen machen eine enge Harmonisierung der britischen Volkswirtschaft mit dem Binnenmarkt unmöglich. Ein Auseinanderdriften der Wirtschaftsmodelle wäre unvermeidlich – und von der ERG durchaus gewünscht. Man strebt ein Art Singapur Europas an: Ein Niedrig-Steuerland, gepaart mit einer liberalen Zollpolitik, laxeren Produktstandards und gelockerten Aufsichtsregeln sähe das Land in direkter Konkurrenz zur EU. Das würde die Gefahr eines Handelskriegs heraufbeschwören.

Das ist eine Horrorvorstellung für Rees-Moggs Fraktionskollegin Anna Soubry und eine Reihe von weiteren Torys, die in einem solchen Kurs wirtschaftliches Unheil sehen und für den Verbleib Großbritanniens in der Zollunion eintreten. Dieser Gruppe von konservativen Volksvertretern hat sich kürzlich Jeremy Corbyn an die Seite gestellt, der Premierministerin Theresa May schon kritisierte: „Diese zerstrittene Regierung lässt das Land komplett im Dunkeln darüber, was sie beim Brexit will.“ Der Labour-Chef erklärte in einer Grundsatzrede, dass seine Partei eine „neue, umfassende Zollunion“ mit der EU anstrebt. Nach Corbyns Festlegung gäbe es jetzt im Parlament eine Mehrheit für einen weichen Brexit. Über die nächsten Monate wird diese Schlacht im Unter- wie im Oberhaus ausgefochten werden. Und Premierministerin Theresa May steht dabei zwischen den Fronten.