Berlin.

Es ist ein extremer Fall. Und ein Fall, der mit Toten endete. Im Sommer 2016 wird der junge Tunesier Anis Amri in Baden-Württemberg festgenommen. Den Sicherheitsbehörden ist er längst als radikaler Islamist aufgefallen. Nun soll er in sein Heimatland abgeschoben werden, denn sein Asylantrag wurde abgelehnt. Doch die tunesischen Behörden stellen dem Mann über Wochen keine Passersatzpapiere oder andere Reisedokumente aus. Die Justiz muss Anis Amri nach kurzer Haft laufen lassen. Er taucht ab. Monate später tötet Amri in Berlin zwölf Menschen.

Die Ermittlungen zum Breitscheidplatz-Attentat haben ein Problem aus Sicht der Behörden mit Wucht auf die Agenda der Politik gehoben: Die Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer scheitert in vielen Fällen daran, dass diese Menschen keine gültigen Papiere besitzen – und das Heimatland Ersatzdokumente nicht oder erst nach langer Zeit ausstellt. Vor allem Innenexperten von Union und SPD, aber auch einzelne Grüne und FDP-Politiker kritisieren, dass dieser Missstand das Asylrecht unterlaufe. Deutschland schiebe nicht „konsequent genug“ ab, sagen sie.

Mehr als ein Jahr nach dem Anschlag in Berlin im Dezember 2016 hat sich die Lage für die Ausländerbehörden und die Polizei nicht verbessert. Im Gegenteil. Die Zahl der abgelehnten Asylbewerber oder irregulär eingereisten Migranten, die nicht abgeschoben werden können, weil ihnen Reisedokumente fehlen, ist 2017 kontinuierlich gestiegen. Das geht aus einem internen Lagebild des Bundesinnenministeriums hervor, das dieser Redaktion vorliegt.

So waren Ende 2016 noch 38.012 Menschen in Deutschland vorübergehend „geduldet“, bis ihre neuen Reisepapiere bei den Behörden eingehen. Erst dann kann die Polizei die ausreisepflichtigen Personen abschieben – oder sie verlassen freiwillig das Land. So ist es in Paragraf 60 im Aufenthaltsgesetz geregelt. Ende 2017, ein Jahr nach dem Berlin-Attentat, liegt diese Zahl nicht niedriger, sondern deutlich höher: laut Ministeriums-Bericht bei 64.914 geduldeten Personen ohne Passersatzpapiere – ein Anstieg um 71 Prozent.

Indien, Pakistan, Iran – hier läuft die Kooperation schlecht

Doch nicht nur das: Im selben Zeitraum ist die Zahl der abgelehnten Asylbewerber, die freiwillig in ihre Heimat zurückkehren, fast um die Hälfte gesunken: auf knapp 30.000 im Jahr 2017. Sind den Versprechen der Politik nach dem Berlin-Attentat keine Taten gefolgt?

Die meisten ausreisepflichtigen Ausländer, bei denen die Reisedokumente Ende 2017 noch fehlten, kamen aus Indien. Insgesamt 5743 Personen. 4943 Menschen, die deshalb geduldet waren, stammen aus Pakistan. 3915 aus dem instabilen Afghanistan, 3828 aus Russland. Bei fast 3800 Menschen ist die Staatsangehörigkeit für die deutschen Behörden „ungeklärt“. Das können etwa Kurden oder Palästinenser sein, die keinen eigenen Staat haben.

Warum ist die Zahl der Ausländer mit einer „Duldung“ so stark gestiegen? Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF, 2017 allein in mehr als 600.000 Fällen über Asylanträge entschieden. Bei mehr als 230.000 urteilte die Behörde, dass sie kein Recht auf Asyl haben. Die Menschen müssen zurück in ihre Heimat, nach Nigeria, Serbien, Marokko, Pakistan oder Russland. Steigt die Zahl der abgelehnten Asylbewerber in Deutschland so deutlich an, ist ein Anstieg der ausreisepflichtigen Personen ohne Reisedokumente unumgänglich. Denn viele Mi­granten kommen schon ohne ihre Reisepässe an der deutschen Grenze an. Gerade wer kaum Chancen auf Asyl hat, versucht es ohne Papiere. Oftmals kassieren aber auch Schlepper die Pässe der Migranten.

Doch zum anderen steigt die Zahl der „Geduldeten“ ohne Pässe, weil die Zusammenarbeit zwischen den deutschen Ausländerämtern und den Behörden in vielen Herkunftsländern noch immer nicht funktioniert. Auch das belegt der Lagebericht aus dem Ministerium. So listet das BMI Ende 2017 Staaten wie Indien auf und merkt an: „Streckenweise sehr langsame bis keine Bearbeitung der Passersatzanträge.“ Trotz „regelmäßiger Besuche in der Botschaft“ – denn dort werden die Reisepapiere eines ausreisepflichtigen Ausländers in den meisten Fällen an die deutschen Behörden ausgestellt.

Zu Pakistan heißt es: „Passersatzbeschaffung läuft, allerdings verzögert.“ Und zum Libanon: „Antworten auf Anträge äußerst rar. Kontakt zur Botschaft ist schlecht.“ Die Zusammenarbeit mit der Türkei läuft laut Lagebericht von Ende 2017 „bundesweit schlecht bis sehr schlecht“. Zum Iran vermerkt das Ministerium: „Eine Passersatzbeschaffung ist in vielen Fällen unmöglich, da der Iran nach wie vor eine Freiwilligkeitserklärung der entsprechenden Person verlangt.“ Bedeutet: Wer nicht in den Iran ausreisen will, darf nicht. Doch die Behörden erzielen auch Fortschritte. Verhandlungen mit Russland sind Ende Januar 2018 „positiv verlaufen“. Und gerade in Richtung Westbalkan funktionieren Abschiebungen mit Ersatzpapieren offenbar sehr gut. In der Botschaft von Ghana sei das Personal aufgestockt worden, um abgelehnte Asylbewerber zügig anzuhören. Botschaften gleichen nun vermehrt Fingerabdrücke ab, um Identitäten zu prüfen.

Eine „nationale Kraftanstrengung“ hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) angekündigt, um abgelehnte Asylbewerber abzuschieben. Zuletzt hat die deutsche Regierung Abkommen mit Staaten vor allem in Afrika geschlossen. Der Deal geht meist so: Die Länder im Süden kooperieren bei den Reisedokumenten für Ausreisepflichtige aus Deutschland. Dafür lockert die Bundesregierung die Zügel bei der Visavergabe für diese Länder, etwa für Geschäftsleute oder Studenten. Auch bei der Entwicklungshilfe zahlt Deutschland mehr, wenn Abschiebungen in die Herkunftsländer funktionieren.

Noch immer waren Ende 2017 insgesamt 228.859 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig. Ein Anstieg um zehn Prozent zum Vorjahr. Vor allem die Fälle aus Nigeria, Armenien und Pakistan nehmen zu. Allerdings sind mehr als 160.000 Menschen vorübergehend in Deutschland „geduldet“, nicht nur weil ihnen Reisepapiere fehlen. Auch wer krank ist, darf nicht abgeschoben werden. Manchen Menschen droht Folter oder Todesstrafe in ihrer Heimat. Die Linke kritisiert, dass Ausländer aufgrund dieser Asylpolitik „teilweise jahrelang in permanenter Angst vor Abschiebung leben“.

Gut 25.000 Ausreisepflichtige hat die Polizei 2017 abgeschoben. Insgesamt ist diese Zahl im Vergleich zu 2016 leicht gesunken, aber bei den viel diskutierten Herkunftsstaaten Nigeria, Guinea, Afghanistan, Iran oder Russland steigt sie an – trotz der Probleme mit den fehlenden Reisedokumenten.

Und auch die Zusammenarbeit mit den Staaten im Maghreb läuft besser. So vermerkt das Innenministerium zu marokkanischen Passersatzpapieren: „Bearbeitung erfolgt schnell.“ Zu Algerien heißt es: „Passersatzbeschaffung funktioniert.“ Tunesien, das Land aus dem der Berlin-Attentäter ausgereist war, ist im Lagebericht nicht aufgelistet. Jedoch heißt es, dass die Zahl der Ausreisepflichtigen aus Tunesien sogar „leicht gesunken“ sei, auf 1413 Personen Ende 2017. Eine Ausnahme, die man sonst selten liest auf den 40 Seiten.