Trèbes/Paris.

Die französische Polizei fackelt nicht lange: Eine Spezialeinheit stürmt den Supermarkt in Trèbes und tötet den Geiselnehmer. Es ist das blutige Ende eines Dramas. Zuvor hatte sich ein Polizist gegen eine Geisel austauschen lassen. Frankreich war am Freitag abermals im Visier des Terrorismus. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) reklamiert die Tat umgehend für sich. Die vorläufige Bilanz der Bluttat: Drei Todesopfer, den Täter nicht mitgerechnet, und ein Dutzend Verletzte. Die Chronologie eines Anschlags, der ein ganzes Land in Atem hält.

Carcassonne, Departement Aude, Südfrankreich, die 45.000-Einwohner-Stadt 70 Kilometer nordwestlich von Perpignan ist eine Touristenattraktion, vor allem wegen der mittelalterlichen Altstadt, ihrem Wahrzeichen. Vier Polizisten kommen an diesem Morgen gegen 10.35 Uhr gerade von einer Joggingrunde zu einer Kaserne zurück, als ein Mann aus einem Auto heraus das Feuer auf sie eröffnet und dabei mindestens fünf Schüsse abgibt. Ein Beamter wird an der Schulter leicht verletzt, bevor der Täter davon rast.

Er hatte zuvor den Wagen in seine Gewalt gebracht, den Mann hinterm Steuer verletzt und dessen Beifahrer erschossen. Nun eilt er in dem gestohlenen Fahrzeug in die Kleinstadt Trèbes, nur knapp zehn Kilometer östlich von Carcassonne, hält dort vor dem Supermarkt „Super U“ an und greift hier wahllos Kunden an. Einige Menschen werden verletzt, die meisten können fliehen und sich in eine benachbarte Autowerkstatt retten. Aber zwei Menschen sterben. Zeugen berichteten dem Radiosender „France Info“ hinterher, der Täter habe dabei „Allahu Akbar“ gerufen.

Über ein Handy können die Ermittler alles mithören

Nach Angaben der örtlichen Polizei wurde ein Fleischverkäufer erschossen. Die Identität eins weiteren Todesopfers ist bisher noch ungeklärt. „Das ist ein Kollege und vor allem ein Freund, ein supernetter Typ“, bestätigt ein anderer Metzger des Supermarkts dem Sender „Europe 1“. Fassungslos bemerkt er, „es ist traurig zu sehen, dass man nirgends sicher ist“.

Derweil treibt der mutmaßliche Islamist mehrere der Anwesenden mit vorgehaltener Waffe in einer Ecke zusammen und erklärt: „Ich bin ein Soldat des Islamischen Staats.“ Umgehend sperren die Behörden die gesamte Region ab – bis Carcassonne. Es gibt kein Entkommen, der Täter weiß das. Es ist jetzt elf Uhr, und es wird noch weitere drei Stunden dauern, bis der Täter ausgeschaltet sein wird. Erst einmal nimmt das Drama seinen Lauf.

„Als die Schüsse durch den Supermarkt hallten, bin ich sofort zum Notausgang gelaufen und habe mich ins Freie geflüchtet“, erzählt Medi F. und wimmelt weitere Fragen sofort ab: „Nein, ich hab den Typ nicht sehen können.“ Medi F. ist ein Angestellter des Großkaufmarkts.

Es dauert keine Viertelstunde, bis das Kaufhaus von Polizeikräften umstellt wird. Sicherheitskräfte riegeln die Kleinstadt komplett ab. Viele Bewohner sind unter Schock. „Alles ist blockiert“, sagt eine Frau dem Sender „France Inter“. „Keiner darf jemanden abholen. Ich muss zu Hause bleiben.“ Eltern werden aufgerufen, ihre Kinder nicht aus der Schule abzuholen. Schwerbewaffnete Elitepolizisten, abgesperrte Straßen, Sirenengeheul, Hubschrauberlärm: Frankreich ist wieder im Krisenmodus.

Schon nach wenigen Minuten war eine Eliteeinheit der Gendarmerie (GIGN) aus Toulouse eingetroffen. Dank der geflüchteten Ohren- und Augenzeugen wie Medi F. weiß die Einsatzleitung bereits, dass der Geiselnehmer außer mit einer Schusswaffe auch mit Messern bewaffnet ist und offenbar über mehrere Handgranaten verfügt.

Einem GIGN-Verhandlungsexperten gelingt es rasch, einen Kontakt mit dem mutmaßlichen Terroristen herzustellen. Noch während die Verhandlungen mit dem Geiselnehmer laufen, zieht die Anti-Terror-Abteilung der Pariser Staatsanwaltschaft den Fall an sich und eröffnet eine Untersuchung wegen Mordes.

Inzwischen wissen die Gendarmen vor Ort auch, mit wem sie es zu tun haben: Redouane Lakdim, ein 26-jähriger Franzose marokkanischer Abstammung, der zwar wegen Diebstahl und Drogenhandel vorbestraft ist, aber nicht der Radikalisierung verdächtigt wurde. „Wir haben ihn beobachtet. Wir dachten, dass es keine Radikalisierung gibt. Er ist plötzlich zur Tat geschritten, obwohl er schon überwacht wurde“, sagte Innenminister Gerard Collomb, der nach ­Trèbes eilte. Lakdim lässt sich überreden, seine Geiseln im Austausch gegen einen hohen Polizeioffizier freizulassen. Allerdings weigert sich der Kidnapper entschieden, sich zu ergeben – trotz der flehentlichen Bitten seiner von den Behörden herbeigeholten Mutter und seiner beiden Schwestern.

Stattdessen wird er zunehmend nervös und aggressiv gegenüber seiner letzten Geisel. Das wissen die Gendarmen so genau, weil ihr im Supermarkt festgehaltener Kollege das Handy eingeschaltet lässt. So bleibt den Behörden nichts verborgen, vor allem nicht, dass der Attentäter nicht zu kontrollieren ist. Auch deswegen erfolgt schließlich der Befehl zum Zugriff, bei dem Lakdim getötet und der schwer verletzte Polizei-Oberst befreit werden kann.

Nach Angaben von Collomb war Redouane Lakdim ein Einzeltäter, von Komplizen ist keine Rede. Die Behörden gehen vielmehr von einem sogenannten „einsamen Wolf“ aus. Offen ist allerdings, ob der Marokkaner die Tat genau so geplant hatte oder einfach die Nerven verloren hat, als er in Carcassonne den Polizisten begegnete.

Regierung geht sehr früh und rasch von einem Terrorakt aus

Per Twitter ruft Collomb die Bürger zu Besonnenheit auf. Vor allem bittet er darum, keine Gerüchte zu verbreiten. Laut Medienberichten hat der Marokkaner die Freilassung von Salah Abdeslam gefordert. Abdeslam wird zu einer Zelle des IS gezählt, die Anschläge in Paris im November 2015 und in Brüssel im März 2016 verübte. Der islamistische Terrorist sitzt in Frankreich in Untersuchungshaft.

Man gehe von einem Terrorakt aus, sagt Premierminister Édouard Philippe vor Journalisten, als er am Rande eines EU-Gipfels in Brüssel von der Geiselnahme in seinem Land erfährt. Er spricht von einer „ernsten Situation“.

Er und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beteuern unisono, alles deute auf einen terroristischen Anschlag hin. Bei einer Pressekonferenz mit Macron zeigt sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) „sehr bestürzt“. Vor allem bekundet Merkel ihre Anteilnahme. „Wir sind natürlich bei den ­Betroffenen und Angehörigen und ­sprechen ihnen aus vollem Herzen unsere Anteilnahme aus“, erklärt die Kanzlerin.

Frankreich war in den vergangenen Jahren immer wieder zum Ziel islamistischer Anschläge geworden. Bei der letzten Attacke in Marseille waren am 1. Oktober zwei Menschen getötet worden. Allein 130 Menschen wurden bei der Anschlagsserie im November 2015 in Paris getötet.

Zuletzt hatte allerdings Ruhe geherrscht. Es waren zwar mehrere Attentate vereitelt worden, unter anderem auf Armeekräfte und eine Sportstätte, aber es gab eben keine Opfer. Es war eine trügerische Sicherheit. Nach dem Anschlag in Trèbes bilanziert Minister Collomb ernüchtert: „Wir sind in einer kleinen, ruhigen Stadt. Leider ist die Bedrohung überall.“