Flensburg.

Es ist elf Uhr am Vormittag, und in den Fluren des Rathauses hängt der Geruch von Essen. Simone Lange hat die Kantine als Treffpunkt vorgeschlagen. Ihr Büro liegt drei Stockwerke weiter oben, aber das hier soll kein Termin der Oberbürgermeisterin von Flensburg sein, sondern ein Treffen mit der Sozialdemokratin Simone Lange. Sie sei hier als ehrenamtliches SPD-Mitglied, sagt sie, und nicht als Verwaltungschefin der nördlichsten Stadt Deutschlands. Also Kantine.

Was wie Haarspalterei wirkt, hat eine Bedeutung: Simone Lange will am 22. April zur Vorsitzenden der SPD gewählt werden. Die Partei brauche eine Erneuerung, sagt sie, einen Neuanfang. „Neue Impulse“ will sie geben, einen „neuen Stil“ einführen. Dazu gehört für Lange, als einfaches Mitglied aufzutreten. Später wird sie zu Fuß durch Flensburg laufen, kein Dienstwagen, keine Mitarbeiter. Sie hat nur ihre braune Ledertasche umgehängt.

Dass eine völlig unbekannte Kommunalpolitikerin Chefin der SPD werden will, wirkt wie ein aussichtsloses Unterfangen. Die Kandidatin des Parteivorstands heißt Andrea Nahles. Sie ist Fraktionschefin im Bundestag, sie war Bundesarbeitsministerin und Generalsekretärin. Nahles ist die mächtigste Frau in der SPD. Seit Wochen schon ist sie „designierte Parteichefin“. Welche Chance soll Simone Lange da haben?

35 Ortsvereine in zehn Ländern unterstützen sie

Die 41-Jährige interessieren solche Fragen nicht. Sie könne das nicht einschätzen, sagt Lange und lacht. Ihre Augen verraten Entschlossenheit, sie kann einen anschauen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Auf dem Handy vor ihr gehen im Minutentakt Nachrichten ein, Lange schaut jedes Mal für Sekundenbruchteile darauf. „Organisation ist alles“, mit diesem Leitspruch versucht sie den Job als Oberbürgermeisterin, ihre Familie mit zwei kleinen Töchtern und jetzt diese Bewerbung unter einen Hut zu bringen. Dazu gehören frühes Aufstehen und wenig Schlaf. Am Mittwochnachmittag sei sie zu Hause bei den Kindern, sagt Lange. E-Mails schreiben und telefonieren könne sie von überall.

Zur Kandidatur entschlossen hat sich die ehemalige Polizistin und Landtagsabgeordnete, weil sie mit den Entscheidungen der SPD-Spitze „nicht mehr glücklich“ gewesen sei. Als der SPD-Vorstand „die eigene Satzung nicht mehr ernst genommen“ habe und An­drea Nahles zur Vorsitzenden machen wollte, obwohl sie dem Spitzengremium nicht angehört, war für sie das Maß voll. „Da schlug es dreizehn“, sagt Lange. Am 13. Februar erklärte sie ihre Kandidatur. Da wurde sie von der Parteispitze noch nicht einmal belächelt, sondern einfach nur ignoriert.

Das hat sich geändert. Andrea Nahles habe ihr neulich eine SMS aufs Handy geschickt und um ein Treffen gebeten, erzählt Lange stolz. Man suche jetzt einen Termin. Zu groß ist die Unzufriedenheit an der Basis – über die große Koalition, die schlechten Umfragewerte, die derzeitige Parteiführung. Die Partei ist in Aufruhr. Was wäre, wenn auch Nahles’ Wahl nicht sicher wäre? Gerade verweigerte die Bundestagsfraktion Nahles bei der Besetzung eines Sprecherpostens die Gefolgschaft.

In Flensburg hat Simone Lange einen Unterstützerkreis von fünf Leuten, dazu 15 weitere Helfer. Auf einer „Deutschlandtour“ will sie sich bis zum Parteitag bei der SPD-Basis bekannt machen und in jedem Bundesland einmal auftreten. 35 Ortsvereine in zehn Bundesländern unterstützen sie. Das sind 35 von 7741 Ortsvereinen in ganz Deutschland. Lange versichert, alles werde ehrenamtlich organisiert. Sie nehme keine Spenden an und werde von keinen Politikberatern unterstützt.

Am vergangenen Freitag darf Lange in der SPD-Zentrale in Berlin eine Pressekonferenz geben – in einem Seminarraum im vierten Stock. Ein Dutzend Journalisten ist gekommen, auch die großen Fernsehsender. „Mein Name ist Simone Lange, ich bin 41 Jahre alt und geboren in Thüringen“, sagt sie, als sie sich vorstellt. Ihre Stimme klingt zu Beginn etwas unsicher. In die SPD sei sie „nicht wegen, sondern trotz Gerhard Schröders eingetreten“. Die Agenda-Politik sei ein großer Fehler gewesen, die Bevormundung und Sanktionierung von Arbeitslosen gehöre abgeschafft. Lange ist für ein bedingungsloses Grundeinkommen, für kostenlose Bildung und gegen die Verrechnung von Sozialleistungen. Sie wünscht sich „ein Abrüstungs- statt eines Heimatministeriums“. Ein dezidiert linkes Profil. Das passt zum schleswig-holsteinischen SPD-Landesverband. Viele vermuten, dass Lange dort den Vorsitz übernehmen wolle. Sie lacht, wenn man danach fragt – eine professionelle Form, die Antwort zu verweigern.

Der jetzige Landeschef Ralf Stegner findet bissige Worte für Langes Kandidatur: „Wer für das Amt Willy Brandts kandidiert, muss das wollen und können“, sagt er und fügt hinzu: „Einen taktischen Umgang mit der Kandidatur für dieses Amt unterstelle ich niemandem – das wäre sicher auch unangemessen.“ Ein Satz, der genau das ist: eine Unterstellung. Bösartigkeiten unter Parteifreunden.

Schleswig-holsteinischen Sozialdemokraten fällt wenig ein, was Lange in Flensburg bisher erreicht hat. Sie selbst nennt als größten Erfolg, dass sie einen Platz für das neue Krankenhaus gefunden hat.

Auf ihrem Twitter-Account mischt Lange sich neuerdings in bundespolitische Debatten ein. Wer ihre Forderungen hinterfragt, bekommt nur wolkige Antworten. Für die SPD wünscht sich Lange mehr Kontakt zu Grünen und Linken. Sie meint, eine „Bewegung“ der drei Parteien habe mehr Aussichten auf Erfolg als ein Wahlkampf, bei dem jeder den anderen schlecht mache. Ist das naiv oder angesichts komplizierter werdender Mehrheiten vielleicht doch modern?

Mehr „Transparenz“ und mehr „Glaubwürdigkeit“ brauche die SPD, sagt Lange. Die Mitglieder sollten nicht nur über den Koalitionsvertrag abstimmen dürfen, sondern auch über den Parteivorsitz. Es solle keine Kungelrunden mehr geben.

Lange selbst will auf dem Parteitag im April noch von Delegierten gewählt werden. Das wäre der sehr traditionelle Weg. Die Bewerbung dafür liegt nun offiziell vor. Simone Lange hat sie persönlich im Sekretariat des SPD-Vorstands abgegeben. Journalisten durften sie in den fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses nicht begleiten. So weit geht die Transparenz dann doch nicht.