Berlin.

Es ist eine demokratische Tradition: Zu Beginn jeder Amtszeit stellt der Bundeskanzler in einer Rede vor dem Bundestag die wichtigsten Weichenstellungen der neuen Regierung vor. Danach folgt eine Aussprache der Fraktionen, die Generaldebatte. CDU-Chefin Angela Merkel trat am Mittwochmittag bereits zum vierten Mal vor den Bundestag, um eine Regierungserklärung zu halten. Sie ist nach Konrad Adenauer und Helmut Kohl die dritte Regierungschefin, die in eine vierte Legislaturperiode startet.


Das größte Ziel: Zusammenhalt
2014 saß die Kanzlerin bei ihrer Regierungserklärung noch, sie hatte sich zuvor beim Langlauf verletzt. Diesmal ging Merkel rasch zum Rednerpult: Reden zu halten gehört nicht zu ihren großen Stärken, ihre Rhetorik ist oft ausbaufähig. Sie weiß das, doch diesmal hat sie sich einiges vorgenommen. Im Gegensatz zu den viel kritisierten Auftritten nach dem Wahldebakel der Union im September, wo sie nur zögernd Versäumnisse einräumte, signalisierte sie diesmal: Ich habe verstanden, auch ich habe Fehler gemacht. Sie war in ihrer Analyse ungewöhnlich selbstkritisch.

Die 171 Tage Regierungsbildung – so lange hat es in Deutschland noch nie gedauert – „schon diese Umstände deuten darauf hin, dass sich im Land etwas verändert hat“, sagte die Kanzlerin. Obwohl Deutschland wirtschaftlich gut dastehe, „ist der Ton der Auseinandersetzung rauer geworden“. Wie zum Beweis mangelte es an hämischen Zwischenrufen der AfD während ihrer Rede nicht.

Die Gesellschaft sei so sehr polarisiert, stellte Merkel fest, dass ein so banaler Satz wie „Wir schaffen das“, den sie zuvor schon häufig gesagt habe, im Herbst 2015 zum Kristallisationspunkt der Flüchtlingsdebatte geworden sei. Diese Verunsicherung hätten auch die Koalitionsparteien bei der Bundestagswahl im September letzten Jahres zu spüren bekommen. Klar sei, dass die Vorzeichen der Flüchtlingskrise, der Bürgerkrieg in Syrien, völlig unterschätzt worden sei. „Zur ganzen Wahrheit gehört, dass wir, auch ich, zu lange zu halbherzig reagiert haben.“ Die Hoffnung, dass der Krieg in Syrien Europa und Deutschland nicht berühre, sei „falsch und naiv“ gewesen.

Die entstandenen Risse in der Gesellschaft müssten jetzt wieder gekittet werden. Dies betreffe nicht nur die Spaltungen zwischen Alt und Jung, Stadt und Land sowie Arm und Reich, sondern auch zwischen Menschen, die seit Langem in Deutschland lebten sowie Flüchtlingen und Zugewanderten. Auch sei eine neue wirtschaftliche und technologische Dynamik nötig, um Wohlstand auch in Zukunft zu erhalten und Sozialprogramme finanzieren zu können.

Die wichtigste Botschaft
Merkel trat in ihrer Rede auch indirekt Spekulationen entgegen, wonach sie vorzeitig aus dem Amt scheiden könnte: „Inzwischen kennen Sie mich: Ich werde jeden Tag von morgens bis abends arbeiten“. Sie wolle alles dafür tun, dass am Ende dieser Legislaturperiode die Menschen sagen: „Die in Berlin haben aus dem Wahlergebnis von September 2017 etwas gelernt. Die haben wirklich etwas verstanden und viel Konkretes und Gutes für uns erreicht.“ Sie hoffe, dass am Ende dieser Legislaturperiode diese Bilanz gezogen werde: „Unsere Gesellschaft ist menschlicher geworden, Spaltungen und Polarisierung konnten verringert, vielleicht sogar überwunden werden, und Zusammenhalt ist neu gewachsen.“

Die Kabinettsdisziplin
Auf der Regierungsbank gab es vor der Rede einen intensiven Austausch zwischen dem neuen Bundesinnenminister, CSU-Chef Horst Seehofer, und der Kanzlerin. Doch in der Rede machte die CDU-Vorsitzende deutlich, wer im Kabinett die Deutungshoheit hat: Merkel bekräftigte, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Viele hätten damit Schwierigkeiten, und das sei ihr gutes Recht. Die Bundesregierung habe aber eine übergeordnete Aufgabe und die Verantwortung, dass der Zusammenhalt in Deutschland größer und nicht kleiner werde. Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus hätten demgemäß „in unserem Rechtsstaat keinen Platz“.

Zwar sei das Land vor allem christlich-jüdisch geprägt. Mit Blick auf die 4,5 Millionen Muslime fügte Merkel aber hinzu, „dass ihre Religion inzwischen ein Teil Deutschlands geworden ist“. Seehofer hatte in einem Interview kurz nach Amtsantritt gesagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch nannte ihn dafür am Mittwoch den „aus Bayern abgeschobenen neuen Innenminister“.
Die Außenpolitik

Merkel kritisierte Russland und den Nato-Partner Türkei mit Blick auf Syrien ungewöhnlich deutlich: Die Bundesregierung verurteile die Angriffe in Ost-Ghuta „auf das Schärfste“, sagte sie und nannte explizit „das Regime von Assad, aber auch Russland, das dem zusieht“. Auch das türkische Vorgehen gegen Kurden in der syrischen Region Afrin sei trotz der Sicherheitsinteressen der Türkei inakzeptabel. „Auch das verurteilen wir auf das Schärfste.“

Und auch die USA und Präsident Donald Trump sparte sie nicht aus und fand deutliche Worte: Die angekündigten Schutzzölle seien schädlich. Sie werde sich zwar für Gespräche mit der US-Regierung einsetzen, notfalls aber unmissverständlich Gegenmaßnahmen ergreifen.
Der Kernsatz
Merkel formulierte einen Appell für mehr Zutrauen an die Bevölkerung. „Ich bin überzeugt: Deutschland kann es schaffen“ und zitierte damit aus ihrer ersten Regierungserklärung aus dem Jahr 2005. Sie fügte – auch mit Blick auf Seehofer– hinzu: „Deutschland, das sind wir alle.“


Die Antwort der Opposition
AfD-Fraktionschef Alexander Gauland eröffnete als erster Redner die Generalaussprache. Er hätte sich ein bisschen mehr Pathos oder Tiefgang gewünscht. „Aber Sie haben das erste Mal wieder von Deutschen gesprochen. Das ist der Erfolg der AfD.“ Er kritisiert die „Politik der offenen Grenzen“, die zu „Masseneinwanderung“ führe. Die Kanzlerin habe Europa gespalten. FDP-Chef Christian Lindner griff Merkel massiv persönlich an: „Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Regierungschefin so oft ,Sagen wir die Wahrheit‘ oder ,Seien wir ehrlich‘ sagen gehört zu haben“, sagte Lindner scharfzüngig. „Das wirft die Frage auf, was mit den letzten zwölf Jahren war.“ Helmut Kohl habe sich in 16 Jahren als Kanzler „um dieses Land und Europa verdient gemacht“. Ob man 2021 ähnlich auf Merkels 16 Jahre zurückblicken werde, das müsse die Zeit erst einmal zeigen, stellte Linder fest. Merkel tippte währenddessen ungerührt auf ihrem Handy herum.

Einen Seitenhieb hatte der Chef der Liberalen noch parat: Die Jamaika-Gespräche mit Union und Grünen hätten ihn geradezu traumatisiert. Dafür fing er sich eine Retourkutsche von Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter ein: Man habe Lindners Rede „angemerkt, dass Sie Ihr Trauma noch nicht überwunden haben“.

SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles konnte sich einen kleinen Seitenhieb auf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht verkneifen. Als sie vom Thema Pflege sprach, betonte sie, es „erfordert volle Konzentration des zuständigen Ministers“. Spahn lächelte – mit provokanten Äußerungen über Hartz IV oder zur Debatte über Abtreibungswerbung hatte er schon kurz nach der Vereidigung für Verärgerung beim Koalitionspartner gesorgt.