Berlin.

Russische Überläufer können an Altersschwäche sterben – wenn sie Glück haben. Wolfgang Krieger kennt ehemalige Spione, die unbehelligt ein normales Leben führen. Sie sollten sich freilich zurückhalten. In Gefahr begeben sich Ex-Agenten nach Ansicht des Marburger Historikers und Geheimdienst-Kenners, wenn sie sich im Exil öffentlich betätigen, Vorträge halten, Interviews geben, aus dem Nähkästchen plaudern oder schlecht über Russlands Präsident Wladimir Putin reden, für Krieger das „Element eines Todesurteils“.

Wenn er den Giftanschlag auf Sergej Skripal im südenglischen Salisbury analysiert, beschleicht Krieger das ungute Gefühl, dass dieser Fall „etwas leichtsinnig“ gehandelt worden sei. Wurde die Sicherheit vernachlässigt? Und wenn ja, von wem, von Skripal oder von den britischen Behörden?

Dass Verräter gejagt werden, ist nach Kriegers Darstellung eine „Spezialität kommunistischer Geheimdienste“, an der sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nichts änderte. Berühmt ist das Attentat auf Georgi Markow im September 1978. Der Bulgare wurde an einer Londoner Bushaltestelle von einem Mann mit Regenschirm angerempelt, spürte einen Stich am Oberschenkel, dachte sich aber nichts dabei. Bald fiel er ins Koma und starb. Der Regenschirm war mit einem Pflanzengift präpariert worden. „Von westlichen Geheimdiensten ist so etwas nicht bekannt“, sagt Krieger.

37 Jahre lang beschützte Kanada einen Überläufer

Enttarnte, ausgetauschte Informanten des Bundesnachrichtendienstes (BND) wurden vorsorglich in Partnerstaaten geschickt, Kanada, USA oder Australien, „fernab vom Schussfeld“, wie Krieger erzählt, der zur Kommission gehörte, die die BND-Historie aufgearbeitet hat. Man hat ihnen Tarnidentitäten verpasst und sie mit Legenden für ein neues Leben versehen.

Ein Extrembeispiel ist der Fall Igor Gusenko, der wie Skripal den russischen Militärgeheimdienst GRU verraten hatte. Gusenko arbeitete nach dem Krieg an der sowjetischen Botschaft in Ottawa, lief mit Dokumenten über und trug dazu bei, dass eine Reihe von Spionen in Nordamerika enttarnt wurde.

Die Kanadier haben ihn, seine Frau sowie ihre acht Kinder 37 Jahre lang beschützt und das „supergeheime Versteckspiel“ (Krieger) nach seinem natürlichen Tod Anfang der 1980er-Jahre weiterbetrieben. Es dauerte 20 Jahre, bis an dem Grabstein auf einem Friedhof in Toronto der echte Name und die korrekten Daten angebracht wurden.

Gut möglich, dass nach dem Kalten Krieg das Risiko von Racheaktionen unterschätzt wurde, auch von den Opfern. Ihnen könne man die freie Rede nicht verbieten, sagt Krieger und zieht Parallelen zu Alexander Litwinenko, der wie Skripal in England lebte und Putin kritisiert hatte. Litwinenko wurde 2006 in London vergiftet. Bei ihm hatte man den radioaktiven Stoff Polonium eingesetzt – bei Skripal und seiner Tochter ein Mittel aus der Gruppe der Nowitschok-Nervengifte, die das sowjetische Militär in den 70er- und 80er-Jahren entwickelt habe.

Dass die Spuren nach Russland nicht verwischt wurden, ist verwunderlich. Umgekehrt wird für Krieger ein Schuh daraus: Wenn es Absicht war. „Es ist eine Inszenierung.“ Man hätte Skripal auch erschießen können. Mit Gift stellen sich die Folgen langsamer ein, das Ergebnis ist dramatischer und publicityträchtig. Krieger sagt: „Eine Machtdemonstration.“ Und ihre Botschaft laute: „Keiner von euch kann sich sicher fühlen.“ Auch das Timing – kurz vor den russischen Wahlen – ist verdächtig. Nach seinem Erfolg ist Putin jetzt bemüht, die Wogen zu glätten.

Unklar ist für den Historiker, ob der Präsident den Anschlag angeordnet hat oder ob „halb autonome Netzwerke von Ehemaligen“ aktiv wurden, „um die Kameradenehre zu retten“. Die Frage sei, wie sie an den Stoff gekommen sind. „Das können sie nicht im DM-Markt kaufen“, man könne es ebenso wenig ohne Weiteres zusammenmixen. Der Attentäter wusste, wie er das Gift beschaffen, damit umgehen und das Eigenrisiko minimieren kann.

Der Historiker glaubt nicht, dass der Fall Skripal Informanten abhalten wird, mit dem Westen zusammenzuarbeiten. Einige würden sich aber überlegen, ob sie im Exil gegen Putin Stellung beziehen. Krieger kann sich vorstellen, dass die westlichen Staaten die Liste der ausgetauschten oder enttarnten Agenten durchgehen werden, um sie zu schützen. „Wir können sie nicht internieren“, sagt er, „aber wir können sie warnen und ihnen Hilfe anbieten.“