Moskau.

Am Ende gibt es für die Chef-Strategen im Kreml doch noch einen Wermutstropfen. Zwar gewinnt Wladimir Putin die Präsidentschaftswahl am Sonntag haushoch. Nach der Auszählung von gut der Hälfte der Stimmen am Sonntagabend ergibt sich laut Wahlleitung für ihn ein Anteil von rund 75 Prozent. Doch die Wahlbeteiligung liegt Prognosen zufolge mit rund 60 Prozent unter den Erwartungen. Der Präsidentenapparat hatte zuvor die Zielmarken „70/70“ ausgegeben. 70 Prozent Wahlbeteiligung und 70 Prozent für Putin.

Die Präsidentschaftswahl am Sonntag sichert Putin die vierte Amtszeit. Der Amtsinhaber stimmte gegen 9.30 Uhr Ortszeit in Moskau ab. Ihm sei jedes Wahlergebnis recht, das ihm erlaube, seine Pflichten als Präsident weiter auszuüben, erklärt er Journalisten.

Die Wahl wurde auf den vierten Jahrestag der Annexion am 18. März 2014 gelegt. Der Westen verurteilt die Einverleibung der Schwarzmeerhalbinsel als Bruch des Völkerrechts. Putin zählt sie aber zu seinen größten Erfolgen. Die Annexion hat seine Beliebtheit dauerhaft hoch gehalten und den Nationalstolz vieler Russen beflügelt. Die EU will das Ergebnis auf der Krim nicht anerkennen. Auch die Ukraine protestierte gegen die Abstimmung dort.

Gegen Putin traten sieben Anwärter an. Zweitplatzierter wurde der Großfarmer Pawel Grudinin mit rund 13 Prozent, Dritter der Rechtspopulist Wladimir Schirinowski mit rund sechs Prozent. Für die liberale TV-Journalistin Xenia Sobtschak wurde nur gut ein Prozent gezählt. Die übrigen Kandidaten bekamen noch weniger Stimmen.

Der Kandidat mit den größten Chancen gegen Putin, der Aktivist Alexej Nawalny, durfte nicht zur Wahl antreten. Gegen ihn wurde ein dubioses Steuerverfahren eröffnet. Er hat zum Wahl-Boykott aufgerufen, der aber offenbar nur von einer Minderheit befolgt wird. Vor der Mittelschule 16 in Moskauer Stadtteil Odinzowo dudelt ein alter Sowjetschlager aus dem Lautsprecher. Drinnen herrscht lebhafter Verkehr. Viele Wähler sind mit kleinen Kindern hier. Leute stecken den Kopf in einen Rahmen mit dem Logo „Insta­gram“ und der Aufschrift: „Ich habe heute den Präsidenten Russlands gewählt.“ Sie lassen sich fotografieren. Am Ende des Korridors stehen zwei Jugendliche in den roten Baretts und Uniformhemden der „Jungarmee“ mit Schlagstöcken herum, Russlands neue paramilitärische Jugendbewegung.

Auf den Bildschirmoberflächen der beiden elektronischen Urnen im Wahllokal 2018 leuchten Ziffern. Insgesamt haben um 13.15 Uhr Ortszeit 318 von 685 Stimmberechtigten gewählt, erzählt Pawel Golubew, der Vorsitzende der Wahlkommission. „Bei uns ist alles in bester Ordnung.“ Ein junger Wahlbeobachter der liberalen Oppositionspartei „Jawlinski“, der mit einer Stechuhr neben den Urnen sitzt, bestätigt dies. Hier seien alle Stimmen korrekt abgegeben und gezählt worden.

Anderswo geht die Abstimmung nicht so reibungslos über die Bühne. Im nahen Ljuberzi erwischen Wahlbeobachter eine Mitarbeiterin der Wahlkommission, als sie einen ganzen Stapel Stimmzettel in die Urne steckt. Die Zentrale Wahlkommission bestätigt den Verstoß und suspendiert mehrere Beteiligte. Im westsibirischen Kemerowo werden einem Wahlbeobachter die Autoreifen plattgestochen. Im dagestanischen Machatschkala drängen laut dem Nachrichtenportal meduza.io Kampfsportler Wahlbeobachter ab und schlagen sie. Danach stopfen sie Stimmzettel in die Urnen. Die Wahlbeobachtungsgruppe „Golos“ registriert bis ­13 Uhr 858 Wahlverstöße in 72 Regionen.

Insgesamt registrieren die Wahlbeobachter vor Schließung der Wahllokale mehr als 2500 Manipulationsversuche. Mitarbeiter der oppositionsnahen Beobachterstelle „Golos“ dokumentieren besonders viele Vorfälle in Moskau, Sankt Petersburg und in der südrussischen Stadt Krasnodar, wie einer Karte der Organisation am Sonntag zu entnehmen ist. Nach Angaben des Innenministeriums werden Behörden rund 650 Vorfälle gemeldet.

Videos im Internet zeigen Manipulationen

Im Internet kursieren zahlreiche Videos, die zeigen, wie Wähler mehrere Stimmzettel gleichzeitig abgeben wollten. Zudem seien Namen einiger Wähler auf mehreren Liste aufgetaucht, Wahlurnen seien nicht vorschriftsgemäß verschlossen gewesen, heißt es. Eine erste offizielle Einschätzung zu den Wahlfälschungen will „Golos“ am Montagnachmittag geben. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) setzte fast 600 Beobachter ein und will ebenfalls an diesem Montag vorläufige Ergebnisse präsentieren.

„Einige Männer mit schwarzen Jacken kommen hier schon zum dritten Mal her, um ihre Stimme abzugeben“, flüstert Beobachterin Anna, von Beruf Ärztin, im Moskauer Wahllokal der Schule 1541. Auch in anderen Bezirken seien die Schwarzjacken schon gewesen, hätten ihr Kollegen erzählt. Sie dokumentiert über den sicheren Messenger-Dienst Telegram ihre Beobachtungen. „Es wird wieder manipuliert“, kommentiert der Sankt Petersburger Politologe Dmitri Trawin. „Niemandem kann man trauen.“ Aber insgesamt kämen dabei nur ein paar Prozentpunkte mehr für Putin heraus, so Trawin.

In der westsibirischen Region Omsk marschieren Wehrpflichtige kompanieweise zur Wahl, ebenso die Studenten der Kriegsmarine-Akademie in Sankt Petersburg. Moskauer Studenten erzählen, sie erhielten Lehrbonuspunkte für die Teilnahme an der Wahl. Vor den Wahllokalen in mehreren russischen Regionen werden Lotterien veranstaltet, bei denen Wähler iPhones und andere Elektrogeräte gewinnen können. Anderswo winken verbilligte Kinokarten als Belohnung für die Wahlteilnahme. In der Ukraine versperren Polizisten russischen Wählern den Zugang zu den Wahllokalen in der Botschaft und den Konsulaten. Die Behörden in Kiew erklären dies damit, dass Russland seine Präsidentschaftswahlen völkerrechtswidrig auch auf der annektierten Krim veranstalte.

In der Schule Nummer 16 in Odinzowo steht ein Ehepaar vor den Stellwand mit den Kandidaten und deren Steuererklärungen: „Schau mal, Xenias Mann hat im letzten Jahr zehn Millionen verdient“ sagt die Ehefrau. „Offiziell“, antwortet er und grinst. Die Eheleute reden von umgerechnet 140.000 Euro, die der Ehemann der Kandidatin Xenia Sobtschak nach Hause gebracht hat. Für viele Bürger ist es selbstverständlich, auch bei einem erwartbaren Ergebnis ins Wahllokal zu gehen. „Das ist doch meine Bürgerpflicht. Ich stimme hier über die Zukunft meiner Heimat ab“, sagt die 31-jährige Natalja in der Hauptstadt, während ihre Tochter im Schnee spielt. „Ich habe natürlich Putin gewählt. Mir gefällt, wie er redet“, sagt Rentnerin Jekaterina im Wahllokal an der Moskauer Schule 1541. Sie kauft noch schnell Wurst an einem Lebensmittelstand, der die Wähler mit günstigen Preisen zur Stimmabgabe locken sollte. Ein Mann ruft im Vorbeigehen: „Für Putin. Wen sonst?“