Berlin.

Sein erstes großes Interview als Arbeits- und Sozialminister gibt Hubertus Heil noch an seinem alten Arbeitsort: dem Büro des stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden. Es ist 9 Uhr morgens, gleich muss er weiter. Heil braucht wenig Zeit, um seine Vorstellungen zu formulieren – und er scheut nicht den Konflikt.

Herr Heil, ist Deutschland so ungerecht, wie der vergangene SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz glauben machen wollte?

Deutschland ist ein starkes und reiches Land, aber es gibt auch soziale Spaltungen: zwischen Generationen, zwischen Regionen, im Arbeitsleben und in der Einwanderungsgesellschaft. Wir müssen den Zusammenhalt in diesem Land stärken. Dafür stehe ich auch mit meiner Biografie.

Inwiefern?

Es gibt zwei Dinge im Leben, die mich tief geprägt haben: Ich komme aus einer Region in Niedersachsen, die einen heftigen Strukturwandel hinter sich hat. In meiner Heimatstadt Peine haben mal zehntausend Menschen in einem Stahlwerk gearbeitet – jetzt sind es noch 800. Wir hatten Arbeitslosenquoten von 15 Prozent, inzwischen sind wir bei fünf Prozent. Wirtschaftlicher Wandel darf Menschen nicht verletzen. Das ist meine Erfahrung. Hier ist ein starker und handlungsfähiger Staat gefragt.

Was ist die andere Erfahrung, von der Sie sprechen?

Eine sehr persönliche: Ich bin Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die voll berufstätig zwei Söhne groß gezogen hat. Und das war in den 70er-Jahren etwas, das in Westdeutschland oft noch schräg angesehen wurde. Mein Vater hat unsere Familie verlassen und keinen Unterhalt gezahlt. Ich habe selbst erlebt, was sozialer Abstieg und Aufstieg bedeutet. Ich hatte die Chance, durch gute Bildung, die mir meine Mutter ermöglicht hat, da rauszukommen. Wenn man solche Lebenserfahrungen hat, dann ist man gut gerüstet für diese Aufgabe. Heute geht es wieder darum, einen Strukturwandel hinzubekommen – und die Chancen der Digitalisierung auch am Arbeitsmarkt zu nutzen. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen gute Lebensperspektiven bekommen und nicht in den sozialen Sicherungssystemen hängenbleiben. Es geht um ein selbstbestimmtes Leben.

Ihr Kabinettskollege Jens Spahn hat eine Sozialstaatsdebatte losgetreten. Er sagt, Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut. Was entgegnen Sie?

Wir brauchen keine hartherzigen Statistikdebatten. Tatsache ist: Die Grundsicherung liegt am Existenzminimum. Unsere Aufgabe besteht darin, Menschen aus dieser Situation herauszuführen. Der Arbeitsmarkt hat sich gut entwickelt, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir noch einen verfestigten Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit haben.

Sie meinen, Hartz IV bedeutet Armut.

Ich will keine abstrakte Debatte führen. Wir haben nicht die Armut von Somalia, aber gemessen am mittleren Lebensstandard in Deutschland ist die Grundsicherung sehr niedrig. Die Diskussion, die der Kollege Spahn angestoßen hat, führt uns nicht weiter. Ich werde mich darum kümmern, dass Menschen aus der Arbeitslosigkeit herausfinden. Wir wollen Langzeitarbeitslose nicht von einer kurzfristigen Maßnahme zur nächsten schubsen, sondern vier Milliarden Euro bereitstellen, um Menschen eine langfristige Perspektive auf einem sozialen Arbeitsmarkt anzubieten. Wir werden ein Konzept entwickeln, das gemeinnützige Arbeit in den Mittelpunkt stellt. Beginnen werde ich mein neues Amt allerdings mit einem anderen Vorhaben ...

... das wäre?

Wir wollen so schnell wie möglich ein Rückkehrrecht von Teilzeitkräften in eine Vollzeitbeschäftigung umsetzen. Es sind vor allem Frauen, die in der Teilzeitfalle gefangen sind. Das Rückehrecht ist ein wichtiges Instrument zur Gleichstellung von Frauen und Männern und zur Vermeidung von Altersarmut.

Wie sicher ist denn die Rente?

Wir werden das Rentenniveau sichern, das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Kurzfristig werden wir dafür sorgen, dass es beim Rentenniveau von 48 Prozent bleibt. Dazu werden wir die Rentenformel verändern. Wir werden auch eine Grundrente einführen für diejenigen, die zwar ihr Leben lang gearbeitet haben, aber zu so niedrigen Löhnen, dass sie bisher auf dem Niveau der Grundsicherung landen.

Wann wird es diese Grundrente geben?

Die Umsetzung ist nicht ganz einfach. Aber ich bin entschlossen, die Grundrente bis spätestens zur Mitte der Wahlperiode umzusetzen.

Dann ist die Rente wieder sicher?

Wir werden das Notwendige im Rentensystem und am Arbeitsmarkt tun, um langfristig die Rente zu sichern. Das kann in Zeiten des demografischen Wandels und der digitalen Revolution nur gelingen, wenn wir die Grundlage für die gesetzliche Alterssicherung verstärken. Dazu wollen wir auch Selbstständige in die Rentenversicherung einbeziehen. Außerdem werden wir das System durch einen stärkeren Steuerzuschuss stabilisieren. Tun wir das nicht, sinkt das Rentenniveau – und die Beiträge, die in den Zwanzigerjahren ohnehin steigen werden, krachen durch die Decke.

Was heißt das für die private Altersvorsorge?

Wir müssen die Wirkungen der sogenannten Riester-Rente genau prüfen. Ich will mir Modelle in anderen Ländern, etwa in Schweden, genauer anschauen. Wenn sich hier Ansätze für eine bessere und gerechtere Altersvorsorge zeigen, werden wir sie auch durchsetzen.

Ökonomen regen an, die Lebensarbeitszeit über das 67. Lebensjahr hinaus zu verlängern. Liegen sie damit so falsch?

Ich kann nur dazu raten, sich die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Menschen anzuschauen. Es gibt Menschen, die länger arbeiten wollen – andere können einfach nicht mehr. Mit mir wird es keine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben.

Welche Prognose haben Sie für den Arbeitsmarkt? Ist Vollbeschäftigung möglich?

Ja, Vollbeschäftigung ist möglich – allerdings müssen wir darüber reden, was das für eine Form der Beschäftigung ist. Es geht ja darum, Menschen in fair bezahlte Arbeit zu bringen. Trotz der guten Konjunktur gibt es Effekte, die nicht kalkulierbar sind. Gute Qualifikation kann infrage gestellt werden durch technologischen Fortschritt. Mein Ministerium wird dafür sorgen, dass aus dem digitalen Wandel auch sozialer Fortschritt wird. Mein Verständnis ist ohnehin, dass das Ministerium für Arbeit und Soziales auch das Ministerium für soziale Marktwirtschaft ist. Das können wir nur gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften hinbekommen.

Wer wird Ludwig Erhards Erbe und kann sich „Wohlstand für alle“ auf die Fahnen schreiben – Wirtschaftsminister Altmaier oder Arbeitsminister Heil?

Am besten wir beide. Es ist ja mit Händen zu greifen, dass viele Menschen große Zukunftssorgen haben. Wir brauchen einen starken und handlungsfähigen Sozialstaat, auf den die Menschen sich wieder verlassen können, und eine aktive Wirtschaftspolitik.

Unterstützen Sie die Lohnforderungen der Gewerkschaften in den laufenden Tarifverhandlungen?

Bei einer guten wirtschaftlichen Lage ist es sozial und ökonomisch vernünftig, eine angemessene Lohnentwicklung zu haben. Ich werde nie im Detail zu Lohnforderungen Stellung beziehen, das ist eine Frage der Achtung der Tarifautonomie. Aber es ist Zeit, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der guten Wirtschaftsentwicklung profitieren.

Welchen Mindestlohn halten Sie für angemessen?

Ich werde den Empfehlungen der Mindestlohnkommission nicht vorgreifen, die im Sommer zu einer Entscheidung kommen wird. Sicher ist: Der Mindestlohn wird steigen. Wir dürfen aber nicht in der Mindestlohndebatte hängenbleiben. Es geht vor allem darum, Recht und Ordnung am Arbeitsmarkt zu schaffen – und wieder ordentliche Tarifabschlüsse zu bekommen. Wir werden willkürliche Befristung von Arbeitsverhältnissen zurückdrängen und Kettenbefristungen beenden.

Werden Sie die Kontrollen verstärken, ob Unternehmen den gesetzlichen Mindestlohn wirklich zahlen?

Das werden wir uns ansehen. Es gibt Hinweise darauf, dass der Mindestlohn unterlaufen wird. Ich bin dafür, dass wir uns an Recht und Gesetz halten. Ein starker Staat muss Verstöße gegen Arbeitsmarktgesetze ebenso bekämpfen wie Kriminalität.