Berlin.

Es sind seine letzten Tage als Staatssekretär im Finanzministerium. In seinem Büro stapeln sich gepackte ­Umzugskisten. Nächste Woche zieht Jens Spahn ein paar Straßen weiter, das CDU-Präsidiumsmitglied wird Bundesgesundheitsminister. Über seine neuen Aufgaben will Spahn vor der Amtsübergabe am Mittwoch noch nicht sprechen. Dafür skizziert er die großen Linien der Regierungsarbeit.

Herr Spahn, Sie sind 37 und machen seit fast 20 Jahren Politik. Wie viel Lebenserfahrung braucht man, um ein guter Minister zu sein?

Jens Spahn: Politische Erfahrung schadet jedenfalls nicht. Und Lebenserfahrung hängt nicht vom Alter ab, sondern vom Erlebten. Neben der Politik sind für mich auch andere Dinge prägend im ­Leben.

Die Gesundheitspolitik ist ein undankbares Feld. Gesundheitsminister, das zeigen Umfragen, gehören stets zu den unbeliebtesten Kabinettsmitgliedern. Glauben Sie, Angela Merkel hat das bei der Auswahl im Sinn ­gehabt?

Nein.

Eignet sich das Gesundheitsministerium als Sprungbrett für Höheres?

Die Gesundheitspolitik berührt den ­Alltag von fast allen Bürgern. Und den will ich besser machen, Schritt für Schritt. Das ist mein Ziel. Über alles ­andere können Sie gerne spekulieren. Mich beschäftigt das nicht.

Merkel hat Sie aufgefordert, für Deutschland „etwas Gutes zu bewegen“. Wie wollen Sie dieser Erwartung gerecht werden?

Genau dafür sind wir als Union doch angetreten. Und die Neuaufstellung der CDU macht deutlich: Wir wollen über 2021 hinaus Verantwortung für dieses Land übernehmen. Wir werden Deutschland gut regieren – und mit Blick auf das Wahlergebnis klarmachen: Wir haben verstanden. Was das konkret für meine Arbeit als Gesundheitsminister be­deutet, diskutieren wir nach meinem Amtsantritt.

Verstehen Sie sich als Garant dafür, dass es in der großen Koalition kein Weiter-so gibt?

Das Ergebnis der Bundestagswahl war bitter. CDU, CSU und SPD haben Millionen Wählerstimmen verloren. Der Kernauftrag der nächsten großen Koalition lautet, Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates zurückzugewinnen.

Warum ist das Vertrauen verloren ­gegangen?

Durch die Flüchtlings- und Migrationsbewegungen der letzten zweieinhalb Jahre wurden Probleme offenkundig, die vorher schon da waren. Kriminelle Clans etwa, die halbe Stadtteile kontrollieren. Es ist der Eindruck entstanden: Beim Ticket fürs Falschparken funktioniert deutsche Verwaltung, während die Sicherheitsbehörden an manchen Parks oder Plätzen das Recht nicht mehr durchsetzen. Es liegt an uns, das zu korrigieren. Wir werden auch umsetzen, was wir in der Koalition zur Begrenzung der Zuwanderung vereinbart haben. Die dauerhafte Einschränkung des Familiennachzugs war dabei ein wichtiger ­Anfang. Und: Wir müssen erklären, warum wir was tun. Horst Seehofer als Innen- und Heimatminister hat gute Chancen, hier Vertrauen zurückzugewinnen.

Haben Sie den Eindruck, Merkel gesteht sich inzwischen Fehler in der Flüchtlingskrise ein?

Wir regieren Deutschland seit zwölf Jahren. Noch nie ging es uns wirtschaftlich besser als heute. Das ist eine gute Bilanz. Gleichzeitig hat die massive Migration nach Deutschland und Europa eine Ausnahmesituation geschaffen, deren Folgen uns noch länger beschäftigen werden. Noch nie in der Geschichte sind in so kurzer Zeit so viele Menschen aus einem Kulturraum in einen anderen mit einem so großen Wohlstandsgefälle gewandert. Dabei haben wir alle die Wirkung des Digitalen unterschätzt. Über WhatsApp-Gruppen informiert, haben sich nicht nur Menschen aus Syrien, sondern auch aus Bangladesch oder Indien auf den Weg gemacht. Niemand hat behauptet, alles wäre perfekt gelaufen. Wichtig ist doch, dass wir nach vorne schauen und die Probleme lösen. Manche Debatten zeigen allerdings, dass wir immer noch einiges lernen können – ­etwa bei der Essener Tafel ...

... die sich entschieden hat, vorerst nur noch Menschen mit deutschem Pass aufzu­nehmen.

Ich tue mich schwer, von Berlin aus ­besser zu wissen, was in der konkreten Situation vor Ort die richtige Entscheidung ist. Für die Essener Tafel engagieren sich Bürger, die Mitmenschen helfen ­wollen. Und die dann feststellen: Junge Männer treten derart dreist und robust auf, dass Ältere oder Alleinerziehende keine Chance mehr haben, auch etwas von den Lebensmitteln abzubekommen. Dass dann Maßnahmen ergriffen werden, finde ich richtig.

Sie ärgern sich über Merkels Kritik.

Ich weiß, Sie suchen nach Schlagzeilen. Dafür eignet sich das Thema aber nicht. Insbesondere ärgert mich bei Äußerungen mancher Sozialdemokraten, dass die Maßstäbe des Sozialsystems verrutschen. Die Tafeln tragen dafür Sorge, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden. Damit erfüllen sie eine wichtige Aufgabe und helfen Menschen, die auf jeden Euro achten müssen. Aber niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe. Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt.

Reicht Hartz IV zum Leben?

Die gesetzliche Grundsicherung wird mit ­großem Aufwand genau bemessen und regelmäßig angepasst. Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut. Diese Grundsicherung ist aktive Armutsbekämpfung! Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht. Mehr wäre immer besser. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass andere über ihre Steuern diese Leistungen bezahlen.

Ihnen wird nachgesagt, an einer konservativen Wende der CDU zu arbeiten. Wie weit wollen Sie damit in dieser Wahlperiode kommen?

Konservative Wende? Was soll das denn sein?

Das fragen wir Sie.

Es geht doch nicht um rechts, links, oben, unten. Sondern darum, die Themen anzupacken, die viele Menschen umtreiben: Fühle ich mich am Hauptbahnhof meiner Stadt noch sicher? Zu oft ist die Antwort von zu vielen Menschen in Deutschland: Nein. Je schneller die Welt sich dreht, desto größer wird das Bedürfnis der Menschen nach Verbundenheit, Zusammenhalt, Familie, Übersichtlichkeit. Es geht auch darum, kulturelle Sicherheit zu erhalten: Bräuche, Traditionen, der freie Sonntag. Wir sollten Tugenden wie Fleiß oder Pünktlichkeit aktiv wertschätzen. Solche ­Werte sind gerade für viele junge Menschen wichtiger als noch vor 10 oder 20 Jahren. Und sie sorgen dafür, dass wir uns auf ein paar Grundlagen im Zusammenleben verlassen können.

Wie wollen Sie den freien Sonntag ­verteidigen?

Es ist ein existenzieller Wert, dass sich Kinder und Eltern umeinander kümmern können, Zeit füreinander haben. So entsteht Verbindlichkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen und ein Grundvertrauen in die Welt. Wir dürfen nicht alles ökonomisieren, bewerten und auswerten wollen, gerade die Familien nicht. Und dazu gehört auch der freie Sonntag. Wenn Sie das konservativ nennen möchten, habe ich damit überhaupt keine Probleme.

Sehen Sie die neue Generalsekretärin ­Annegret Kramp-Karrenbauer als Mitstreiterin oder eher als Gegenspielerin?

Als Mitstreiterin. Annegret Kramp-Karrenbauer ist die richtige General­sekretärin zur richtigen Zeit. Nach mittlerweile zwölf Jahren Regierungsverantwortung braucht die CDU als Partei ein erkennbares Profil, das sich deutlich von dem der SPD unterscheidet.

Ist es möglich, AfD-Wähler in großer Zahl von der Union zu überzeugen?

Klar geht das. Eine Million Wähler, die mal CDU gewählt haben und jetzt AfD, sind doch keine verlorenen Nazis. Sie will ich wieder von der Union überzeugen. Wir stehen für Zusammenhalt und nicht für Spaltung – und wir lösen ­Probleme. Wenn die CDU regiert, ändert sich was. Und zwar zum Guten.

Die AfD radikalisiert sich, gerade im Osten. Wird sie ein Fall für den Verfassungsschutz?

Eines ist ganz klar: Diese Vereinfacher lösen nicht die Probleme, die diejenigen stören, die für sie gestimmt haben. Leute wie Björn Höcke äußern sich rassistisch, antidemok­ratisch und antisemitisch, sie hetzen und spalten. Jeder, der diese ­Partei wählt, muss wissen, wen er damit unterstützt.

Der Verfassungsschutz dringt in mehreren Bundesländern darauf, die AfD zu beo­bachten.

Es gibt Landesämter für Verfassungsschutz, die entscheiden über Beobachtung nach politischer Färbung. Das ist auch nicht meine Baustelle. Ich will die Auseinandersetzung politisch gewinnen.

Verbietet sich jegliche Zusammenarbeit der CDU mit der AfD?

Dass die AfD im Bundestag oder in Landtagen mal mit der Union stimmt, wird sich nicht vermeiden lassen. Aber eine vereinbarte Zusammenarbeit kann es mit einer Partei, die mit Rassismus spielt, nicht geben.