Berlin. Mehrheit der Deutschen glaubt an stabile Koalition für die gesamte Legislaturperiode. Union und Sozialdemokraten setzen unterschiedliche Akzente für Regierungsarbeit

Eine deutliche Mehrheit der Deutschen rechnet nach Billigung des Koalitionsvertrages durch die SPD-Basis mit der Fortsetzung der großen Koalition bis zum regulären Ende der Legislaturperiode im Jahr 2021. Diese Erwartung hegten 61 Prozent der Befragten einer am Montag veröffentlichten Forsa-Erhebung für RTL/n-tv. Allerdings erwartet auch fast jeder Dritte, die künftige Regierung werde vorher auseinanderbrechen. Am Wochenende hatte die SPD den Weg für eine neues Bündnis mit der Union freigemacht.

Bei der nächsten Bundestagswahl hätte die SPD nach Auffassung der Befragten mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten die größten Erfolgsaussichten. 49 Prozent halten den Hamburger Ersten Bürgermeister und designierten Bundesfinanzminister für den aussichtsreichsten Kandidaten. Dass SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles die erfolgversprechendere Kandidatin wäre, glauben nur 22 Prozent der Befragten. 57 Prozent der SPD-Anhänger sind überzeugt, dass die Sozialdemokraten mit Scholz die größten Chancen hätten.

Unmittelbar nach dem Ja der SPD-Mitglieder zur großen Koalition setzen die Sozialdemokraten und die Union unterschiedliche Prioritäten für ihre kommende Regierungsarbeit. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sprach am Montag im ARD-Morgenmagazin davon, im Koalitionsvertrag habe man die Basis gelegt, um erst einmal die Alltagssorgen der Menschen anzugehen. „Das ist die Rentenpolitik, das ist die Familienpolitik, die Bildungspolitik, die Frage auch, wie stärken wir den ländlichen Raum. Das sind die Punkte, die wir angehen wollen.“

Unionsfraktionschef Volker Kauder hatte dagegen dieser Zeitung gesagt, das wichtigste Vorhaben für den Start der neuen Regierung sei die Begrenzung der Zuwanderung. „Wir von der Union werden die Vorhaben zur Steuerung und Begrenzung der Migration ganz oben auf die Tagesordnung setzen.“

„Wir werden sicherlich auch kritisch in der Regierung diskutieren“, sagte der SPD-Generalsekretär. Was seine eigene Partei angehe, habe diese mit der kontroversen Debatte über den Koalitionsvertrag ihren Erneuerungsprozess bereits eingeleitet. Nun gelte es, die beiden Lager, nämlich die Befürworter und Kritiker der großen Koalition, zusammenzuführen. Klingbeil kündigte an, in der Erneuerungsdebatte auch auf die Vorstellungen der Kritiker, wie von Juso-Chef Kevin Kühnert, einzugehen. „Wir brauchen die Ideen der jungen Menschen in unserer Partei, wir brauchen die Ideen von Kevin Kühnert, von anderen“. Jetzt gelte es, Wege zu finden, diese Ideen einzubeziehen. Eine SPD-Ministerliste werde es „recht bald“ geben.

SPD-Bundesvize Thorsten Schäfer-Gümbel hat davor gewarnt, die Erneuerungsdebatte bei den Sozialdemokraten auf Kosten der großen Koalition voranzutreiben. „Natürlich darf es dabei nicht zu Widersprüchen mit dem Regierungshandeln kommen“, sagte Hessens SPD-Chef im Radiosender hr-Info. Das Problem der SPD sei in den letzten vier Jahren auch nicht das Bündnis mit der CDU, sondern die eigene Aufstellung gewesen.

Die Linke erwartet von der neuen schwarz-roten Koalition keine großen Fortschritte für mehr soziale Gerechtigkeit. „Diese große Koalition wird kein gesellschaftliches Problem lösen“, sagte der Parteivorsitzende Bernd Riexinger in Berlin. Vor allem die SPD habe es nicht geschafft, wichtige sozialpolitische Themen im Koalitionsvertrag zu verankern. Konkret vermisse er eine Erbschaftssteuer für Superreiche, eine Bürgerversicherung und die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen. Es sei für ihn ein Rätsel, wie sich die SPD in dieser Regierung erneuern wolle. „Die SPD hat kein einziges Leuchtturmprojekt, mit dem sie in diese große Koalition geht.“

FDP-Chef Christian Lindner geht davon aus, dass Union und SPD erhebliche Korrekturen an ihrem Koalitionsvertrag vornehmen müssen. Er verwies dabei etwa auf die Digitalisierung. Eine Staatsministerin im Kanzleramt, die dafür zuständig ist, sei zu wenig. Man brauche dort jemand mit Durchschlagskraft, um diesen Bereich endlich voranzubringen. Dies umso mehr, als die SPD ja ohnehin für die Mitte der Legislaturperiode eine Überprüfung des politischen Kurses eingeplant habe.