Brüssel. Martin Selmayr gilt in Brüssel als einer der einflussreichsten Strippenzieher. Er wird Generalsekretär der EU-Kommission

Es ist eine alte Debatte in Brüssel, diese Woche kocht sie wieder hoch: Sind die Deutschen an den Schaltstellen der Europäischen Union überrepräsentiert? Der Verdacht wird im EU-Viertel diskutiert, weil nun auch der Generalsekretär der EU-Kommission ein Deutscher wird. Martin Selmayr, der einflussreiche Kabinettschef von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, ist ab 1. März oberster Beamter der mächtigen EU-Behörde mit ihren 35.000 Mitarbeitern. Er wird der dritte deutsche Generalsekretär im EU-Viertel, neben Klaus Welle im Europaparlament und der Topdiplomatin Helga Schmid beim Europäischen Auswärtigen Dienst.

Berlin setze gezielt auf Schlüsselpositionen unterhalb der politischen Ebene, die nicht im Blickpunkt stünden, aber dafür umso mehr Einfluss garantierten, heißt es unter EU-Diplomaten. Drei Generalsekretäre in deutscher Hand seien nun zu viel. Für die Kritiker passt ins Bild, dass vier der sechs größeren Fraktionen im EU-Parlament von deutschen Abgeordneten geführt werden – und auch der Rettungsschirm ESM mit Klaus Regling und die Europäische Investitionsbank mit Werner Hoyer deutsche Chefs haben.

Doch dass ausgerechnet Selmayr jetzt als Kronzeuge für angebliche deutsche Übermacht herhalten muss, ist eher ein Missverständnis: Der 47-jährige Jurist ist zwar ein ungewöhnlich einflussreicher und durchsetzungsstarker EU-Beamter, ein von manchen gefürchteter und von einigen auch gehasster Strippenzieher – ein Berliner Abgesandter aber ist er gewiss nicht. In Bonn geboren, in Passau promoviert, machte er in Brüssel nicht durch Interventionen der Bundesregierung Karriere, sondern über seine Luxemburger Verbindungen. Er war – nach kurzen Tätigkeiten bei der Europäischen Zentralbank und als Brüsseler Lobbyist für die Bertelsmannn AG – Kabinettschef der Luxemburger EU-Kommissarin Viviane Reding. Die vielfach gefeierte Roaming-Verordnung für Mobiltelefone hat er angestoßen.

Dann suchte plötzlich der Luxemburger Premier Juncker einen Wahlkampfleiter für seine verspätete EVP-Spitzenkandidatur zur Europawahl 2014. „Er hat binnen weniger Wochen eine Kampagne aus dem Boden gestampft“, erinnern sich anerkennend Politiker aus der konservativen EVP. Als Juncker nach seinem Wahlsieg Kommissionspräsident wurde, machte er Selmayr zum Kabinettschef, also zum Leiter des persönlichen Stabs. Als engster Berater Junckers wurde der Deutsche bald unentbehrlich. Doch erarbeitete sich Selmayr zugleich einen schillernden Ruf – als genialer Stratege, charmanter Kommunikator und effizienter Organisator, aber auch als rücksichtsloser Bulldozer: Er soll Kommissaren den Zugang zu Juncker versperrt und unliebsame Entscheidungen in der Kommission blockiert haben, er lieferte sich Kämpfe mit Beamten nationaler Regierungen und verschreckte Mitarbeiter mit ruppigem Auftreten.

Selmayrs Verhältnis zur Kanzlerin und ihren Beamten gilt als wechselhaft. Allerdings erwies er sich in der Flüchtlingskrise aus Berliner Sicht als sehr hilfreich auch in dem einen oder anderen Fall als Anlaufstelle für deutsche Anliegen. Was die angebliche deutsche Überlegenheit in Spitzenämtern anbelangt, verweist Juncker darauf, dass Deutschland fünf Generaldirektoren der EU-Kommission stellt, Frankreich aber sieben, Italien und Spanien je vier. Und Selmayer habe nun wirklich alle Qualitäten, die er für den neuen Posten brauche.