Berlin. Nadia Murad wurde vom IS versklavt und missbraucht. Inzwischen ist sie UN-Sonderbotschafterin und bittet um Gerechtigkeit für ihr Volk

Ihre Stimme ist monoton leise. Und doch entschieden, auch wenn das Gespräch sie anstrengt. Wieder muss sie erzählen, was ihr passiert ist. Von den drei Monaten im Jahr 2014 als Sklavin, Vergewaltigungsopfer, Flüchtling und Waise. Doch ist sie heute noch das Opfer von damals? Fragt man die bekannte Anwältin für Menschenrechte, Amal Clooney, so beschreibt sie die 24-jährige Nadia Murad wie folgt: „Sie ist eine Überlebende. Anführerin der Jesiden. Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen. Und nun auch noch Autorin.“ Und in dieser Wandlung liegt ihre Kraft.

Nadia Murad wirkt zart, aber ihre Worte sind fordernd und mutig. Sie trägt ihr Haar nicht mehr lang wie früher, sondern auf Kinnlänge, helle Strähnen durchziehen das natürliche Schwarz. Sie kleidet sich modern. Alles Dörfliche, Folkloristische hat sie optisch hinter sich gelassen. Doch ihr scheuer Blick, die Müdigkeit, mit der sie von ihrer IS-Gefangenschaft im Irak erzählt, deuten einen tiefen Abgrund an. In diesem Abgrund liegen ihre Erlebnisse. Und dort sollen sie auch bleiben. Für alle, die es dennoch wissen wollen, wissen sollen, hat sie ein Buch geschrieben. „Ich bin eure Stimme“ lautet der Titel und richtet sich vor allem an zwei Gruppen. Einmal an die jesidischen Frauen, von denen 6000 seit 2014 von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ verschleppt wurden. Ihre Stimme möchte sie sein. Andererseits wendet sie sich auch an ihre Peiniger, an die IS-Terroristen, die sich nicht sicher fühlen sollen. All das, was mit ihr und anderen Frauen gemacht wurde, hält sie im Buch fest. Ein Dokument des Grauens und zugleich eine Anklageschrift.

„Ich möchte meine Geschichte nicht immer wieder erzählen, aber ich möchte, dass sie bleibt.“ Niemand soll vergessen, was die IS-Leute ihr angetan haben. Und sie sollen bestraft werden. „Sie sollen zur Verantwortung gezogen werden. Ob sie nun die Todesstrafe oder das Gefängnis erwartet, das sollen Gerichte entscheiden.“

Bis zum 3. August 2014 lebte Nadia Murad in dem Dorf Kocho, nahe der Stadt Sindschar. Sie ging noch zur Schule und träumte davon, vielleicht in einem Jahr nach Mossul zum Studieren zu gehen oder eine Ausbildung zur Kosmetikerin zu machen. Doch an diesem Tag überfielen Terroristen des IS ihr Dorf, schleppten ihre Mutter und ihre Brüder weg. Die jungen Frauen und die Kinder sperrten sie in die Dorfschule. Sie erfährt später, dass ihre sechs Brüder und ihre Mutter von den Extremisten getötet wurden.

Dann transportierten sie Nadia Murad mit den anderen Frauen ab. Die damals 21-Jährige war noch völlig unberührt. Schon auf der Fahrt in ein Zwischenlager für die Frauen begannen die IS-Leute, sie zu begrapschen. Für den IS sind die Frauen nun „sabayas“, Sklavinnen. In Sindschar einzufallen und Mädchen zu verschleppen, ist eine Vernichtungsstrategie der IS-Terroristen. Amal Clooney berichtet in ihrem Vorwort zum Buch von Nadia Murad, dass der „Islamische Staat“ eine Art Leitfaden mit dem Titel „Fragen und Antworten zur Gefangennahme und Versklavung“ veröffentlicht hat. Eine Frage lautet: Ist es erlaubt, mit einer Sklavin, die die Pubertät noch nicht erreicht hat, Geschlechtsverkehr zu haben? Die Antwort lautet verkürzt: Ja. Auch die Frage „Ist es erlaubt, eine weibliche Gefangene zu verkaufen?“ wird im IS-Leitfaden bejaht. Für die IS-Kämpfer sind die Jesiden Ungläubige, weil sie sich in ihrem Glauben auf keine religiöse Schrift beziehen – so rechtfertigen sie ihre Taten gegen die Gemeinschaft, die im Norden Iraks, in Nordsyrien und der südöstlichen Türkei lebt. Nach ihrer Entführung wird Nadia Murad verkauft. Sie wird in die Gegend von Mossul verschleppt und gezwungen, zu konvertieren. Zigaretten werden auf ihr ausgedrückt, sie wird vor einem IS-Gericht verheiratet. Was dann passiert, ist die Entmenschlichung der jungen Frau. Zuerst vergewaltigt ihr „neuer Mann“ sie zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dann, als sie versucht zu fliehen und erwischt wird, erlaubt er seinen drei Wächtern, über sie herzufallen. Einer legt, bevor er sie brutal vergewaltigt, vorsichtig seine Brille ab. Ihr gegenüber zeigt er keine Milde. Dann wird sie weiterverkauft, schon in der ersten Nacht wird sie von ihrem neuen Besitzer vergewaltigt, danach schickt er seinen Freund zu ihr. Zu diesem Zeitpunkt wehrt sich Nadia Murad nicht mehr. Sie lässt es über sich ergehen. Auf die Frage, wie sie das ausgehalten habe, sagt sie: „Tausenden Frauen ist geschehen, was mir passiert ist. Das hat mir Kraft gegeben, weil ich wusste, ich bin nicht allein und dass ich nicht im Unrecht bin. Mir war immer bewusst, dass ich mir nichts zuschulden kommen lassen habe.“ Und das Körperliche? „Man kann sich natürlich nicht vom eigenen Körper trennen, das muss jede Frau durchhalten in der Situation.“ Manche Frauen wurden an 20, 30 Männer weitergereicht. Murad zählte zehn. Doch nach drei Monaten ergab sich eine Chance zur Flucht. „Die Tage davor waren schrecklich. Ich wurde von meinen drei Nichten getrennt, und ich wusste, was ihnen geschehen würde. Sie waren damals 16 und 19 Jahre alt.“ Nur eine Nichte überlebte, zwei wurden getötet.

Als die Haustür plötzlich offen stand, kein Wächter zu sehen war, lief sie davon. „Ich klopfte in der Nacht an das Haus dieser fremden Familie. Es stand ein bisschen abseits. Es war alles dunkel, und es schien auch keinen Strom zu haben. Das war wichtig, denn ich wusste, alle IS-Anhänger haben Strom.“ Die Familie half ihr. Und das Land Baden-Württemberg. Nadia Murad ist eine von 1100 Frauen und Kindern, die im Rahmen eines Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak von der Landesregierung Baden-Württemberg nach Deutschland geholt wurden. Bis heute lebt sie dort.

Nach der Flucht beginnt ihr Leben von Neuem. Sie berichtet von den Taten der IS-Terroristen. Erst im Auffanglager, dann erzählt sie Schauspieler George Clooney in Armenien davon, dann einem Anwalt in England, dann Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, 2015 spricht Murad vor den Vereinten Nationen. 2016 wird sie für den Friedensnobelpreis nominiert, inzwischen ist sie UN-Sonderbotschafterin. Und sie hat ein Ziel.

„Leider stand bislang kein IS-Kämpfer wegen seiner Taten meinem Volk gegenüber vor Gericht.“ Sie möchte, dass die Täter sich vor dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag verantworten müssen. Aufgrund ihrer Aussagen wurde im September 2017 vom UN-Sicherheitsrat eine Sonderkommission eingesetzt, die den Irak bei den Ermittlungen gegen den IS wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unterstützen soll.

Nadia Murad verlor 40 Familienmitglieder durch den IS. Immer noch gelten 3000 Jesidinnen als vermisst.

Am Ende unseres Gesprächs schreibt sie noch eine Widmung in ihr Buch: „Ich möchte, dass die Menschen erfahren, wie friedlich mein Volk ist, das jesidische Volk.“