Leiser Abgang eines Vorsitzenden: Martin Schulz kommt um 18.26 Uhr allein ins Foyer des Willy-Brandt-Hauses. Oben tagen noch die Parteigremien und legen fest, dass Andrea Nahles erst am 22. April bei einem Sonderparteitag in Wiesbaden und nicht sofort die Nachfolge von Schulz antreten darf. Bis dahin übernimmt Parteivize Olaf Scholz kommissarisch die SPD-Führung.

Schulz hustet erst einmal, bevor er zu sprechen beginnt. Er habe gerade mit sofortiger Wirkung seinen Rücktritt erklärt. Dies sei sein letzter Auftritt als SPD-Chef: „Ich scheide ohne Bitterkeit und ohne Groll aus diesem Amt“, sagt der 62-Jährige, der vor knapp einem Jahr noch der 100-Prozent-Heilsbringer der SPD war. Schulz sind die Strapazen und der Druck der letzten Wochen anzusehen. Er musste ja gleich zweimal zurücktreten. Erst vom Vorsitz und dann vom seinem Plan, Außenminister zu werden. „Die Zeit wird die Wunden heilen“, hofft Schulz – und gibt damit einen Blick in seine wunde Seele preis.

Aber auch für Nahles ist die Krisensitzung im Willy-Brandt-Haus anders verlaufen als gedacht. Sie wollte sich am Dienstag als kommissarische Chefin ausrufen lassen – doch die Landesverbände rebellierten erfolgreich. Für Nahles ist das kein Beinbruch, aber eine Warnung. Sie, die doch so gut vernetzt ist in der SPD, hat ihre Partei falsch eingeschätzt. Ein Raketenstart sieht anders aus.

Kaum hat sie sich in der Vorwoche bereit erklärt, nach der unglückseligen Ära Schulz als erste Frau die Geschicke der ältesten deutschen Partei in ihre Hände zu nehmen, da regte sich Widerstand. Die völlig verunsicherte SPD nörgelte vernehmlich am Verfahren der Machtübergabe herum.

Die drei Landesverbände Berlin, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein kritisierten, es gebe keinen Grund, Nahles im Hauruckverfahren sofort und kommissarisch an die SPD-Spitze zu hieven. Dieser Weg sei fragwürdig, weil Nahles zwar Chefin der SPD-Bundestagsabgeordneten sei – formal aber keinen Sitz in Präsidium oder Vorstand der Partei habe. Und dann taucht plötzlich auch noch eine Gegenkandidatin in Flensburg aus der Versenkung auf.

Als am Nachmittag die ersten Mitglieder des 45-köpfigen Vorstandes in der Parteizentrale in Berlin-Kreuzberg eintrudeln, ist schnell klar, dass es für Nahles keinen Durchmarsch gibt. Die baden-württembergische Landeschefin Leni Breymaier lässt kein Mikrofon aus, um deutlich zu machen, dass die Partei doch mehrere Stellvertreter habe, um die Phase der Unsicherheit bis zum Parteitag zu überbrücken. Doch so leicht will sich Nahles nicht geschlagen geben. Ihre Unterstützer halten noch dagegen, die SPD-Satzung sei unklar formuliert. Und was rechtlich offen sei, sei eben nicht verboten. Also doch der Vorsitz sofort?

Mit dieser Haltung kommt Nahles aber schon im Präsidium nicht weit, das ab 15.30 Uhr tagt. Zu groß ist inzwischen der Widerstand angeschwollen. Die Parteispitze will nicht riskieren, noch einmal – wie nach dem Jamaika-Aus, als man vorschnell Gespräche mit der Union ablehnte und dann umfallen musste – die eigene Partei zu überrumpeln.

Ein Kompromiss, dass Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, vorläufig die SPD anführt, ist da schon vom Tisch. Dreyer will nicht. Dann also Scholz. Das macht Sinn. Nahles und er vertrauen sich. Er wird in der GroKo, wenn sie denn kommt, als Finanzminister und Vizekanzler ihr wichtigster Partner sein. Mit der Lösung gehen Schulz, Nahles und Scholz zu den Vorstandsleuten, die in einem anderen Saal auf das Ergebnis warten. Schulz trägt die Einigung vor. Der gewesene Vorsitzende habe das sehr würdevoll gemacht, lobt ein Vorstandsmitglied. Es habe viel Beifall gegeben. Eine breite Diskussion über den Machtwechsel gibt es dem Vernehmen nach nicht. Auch über die Ministerliste der SPD wird gar nicht gesprochen. Sechs Ressorts werden die Sozialdemokraten in einer Regierung besetzen können, darunter die mächtigen Ressorts Finanzen, Außen und Arbeit. Einflussreiche Genossen halten es für riskant, die Namen bis nach dem Mitgliederentscheid unter Verschluss zu halten. Schließlich will die CDU ihre Ministerkarten schon bei ihrem Parteitag am 26. Februar auf den Tisch legen, wie die Kanzlerin am Wochenende ankündigte.

Im SPD-Vorstand gehen bei der folgenden Abstimmung über die Personalien alle Hände hoch. Einer ist anwesend, der gar kein Parteiamt mehr hat, den Laden aber mal wieder richtig in Wallung gebracht hat. Sigmar Gabriel. Sein beispielloser Angriff auf Schulz, dem er Wortbruch vorwarf und den er beleidigte („Mann mit Haaren im Gesicht“), hat den populären Außenminister in der eigenen Partei noch stärker isoliert. Ohne seinen Aussetzer wäre Nahles an Gabriel bei der Besetzung des Außenamtes wohl nur schwer vorbeigekommen. Nun wird sie Härte zeigen müssen, um ihre Autorität bei der Erneuerung der Partei unter Beweis zu stellen. Einige im Vorstand hatten gehofft, Gabriel werde aufstehen und sich bei Schulz entschuldigen. „Ich hatte so was erwartet“, sagt eine Genossin. Doch Gabriel sitzt, hört zu und schweigt.

Dafür reden um 19.20 Uhr Nahles und Scholz umso mehr. Sie müssen vor den TV-Kameras erklären, dass das eine supertolle Lösung für die SPD ist und nicht die Fortsetzung des beinahe täglichen Chaos. Nahles spricht von der großen Verantwortung, die sie jetzt gern wahrnehmen wolle. Es sei auch eine Verantwortung für Deutschland. Sie werde für die große Koalition werben. „Ich werde mich voll reinhängen, damit das auch gelingt!“

In Umfragen nähert sich die Partei der 15-Prozent-Marke

Der SPD-Vorsitz sei eine große Ehre: „Deshalb habe ich mich heute auch gefreut, dass dieses Votum so einmütig, so einhellig, so klar war.“ Aber war da nicht was, Frau Nahles? Wollte sie nicht sofort die Amtsgeschäfte haben, nicht erst am 22. April? Es habe ja in den „letzten Stunden“ eine Debatte gegeben, sagt Nahles und kann sich einen genervten Seitenhieb nicht verkneifen: „Es scheint ja jetzt immer dazuzugehören.“

Selbst auf dem gefährlichen Weg Richtung 15-Prozent-Marke gönnt sich die SPD eine Debatte über Satzungsfragen. Zugleich zeigt der erfolgreiche Widerstand gegen Nahles’ sofortige Inthronisierung, dass der Einfluss der Parteispitze auf die Partei rasant geschwunden ist. Selbst eine Andrea Nahles hat keinen direkten Zugriff mehr. Diesen muss sie sich erst wieder mühsam erarbeiten.

Versöhnlich fügt sie hinzu, man habe auf Kritik reagiert und eine Lösung gefunden, „mit der ich gut leben kann“. Sie ist nun eben die designierte und nicht die kommissarische Vorsitzende. Derjenige, der sich mit diesem Titel schmücken kann, steht neben Nahles. Olaf Scholz versucht, jeden Eindruck zu vermeiden, er sei nun endlich dort angekommen, wo er nach eigenem Empfinden längst hingehört: „Meine Funktion ist eine dienende“, sagt der Hamburger Noch-Regierungschef.

Reporter versuchen dann, Nahles aufs Glatteis zu locken. Was sei denn nun mit der Ministerliste der SPD, die CDU werde doch bald vorlegen? „Ich glaube, das kann man gut aushalten.“ Die Medien hätten zwischen dem CDU-Parteitag und dem Ende des SPD-Mitgliederentscheids eine Woche Zeit, um über die Unionsminister zu berichten. „Dann kommen unsere tollen Namen“, sagt Nahles.

Aber was passiert, wenn die SPD-Mitglieder Nein zur GroKo sagen? „Es geht nicht in die Hose“, ist sich Nahles sicher. Am Sonnabend will sie sich bei den ersten Regionalkonferenzen in Hamburg und Hannover „voll reinhängen“. Sie will auf jeden Fall die SPD führen: „Mein Schicksal verknüpf ich mit goa nix!“ Aber wen ruft die Kanzlerin in den kommenden Wochen an, wenn sie mit dem Koalitionspartner in spe etwas bereden will? „Ich glaube, beide“, meint Scholz. Und Nahles ergänzt breit grinsend: „Wäre schlau.“ Den Humor haben sie in der SPD-Spitze immerhin noch nicht verloren.