Berlin.

Im Sommer, unterwegs auf Stimmenfang, hatte Ehefrau Inge noch seinen Kampfgeist angestachelt. „Wer sich bückt, reizt zum Schlag. Wer sich zum Lamm macht, den beißen die Wölfe“, hatte sie zu Martin Schulz gesagt, wie man Dank des „Spiegels“ weiß. Kämpfen, kämpfen, immerzu kämpfen. Doch der Mann aus Würselen hat sein Boxerherz verloren. Er kann nicht mehr. Am Freitag gab der SPD-Vorsitzende auch seinen Anspruch auf das Außenministerium auf.

Es ist ein Absturz in Etappen. Schon zuvor, am Mittwoch, hatte er seinen Rückzug als Parteichef angekündigt. In weniger als einem Jahr ist Schulz vom Hoffnungsträger der SPD zur Belastung geworden. Für Politiker wie ihn haben die US-Amerikaner eine brutale Bezeichnung: Bald ist er ein „has-been“. Er war mal wer, man nannte ihn einst „Mister 100 Prozent“. Von hundert auf null. Das Ende eines wahrhaft ko­me­ten­haften Werdegangs: Er stieg auf, strahlte und verglühte.

Nicht zuletzt die NRW-SPD entzog ihm die Unterstützung

Mithin zur Überraschung vieler in der Parteiführung hatte sich der Druck binnen nur weniger Tage aufgebaut, auch und gerade aus der Basis im größten Landesverband, aus Nordrhein-Westfalen, wo bislang seine treuesten Anhänger gesessen hatten. Die SPD-Mitglieder waren empört, weil Schulz entgegen seiner früheren Beteuerungen selbst in die Regierung wollte. Gleichzeitig wehrte sich der amtierende Außenminister Sigmar Gabriel gegen seine eigene Verdrängung. Schulz sah sich zum Rückzug genötigt – schon damit das Parteivolk Ruhe gibt.

Am frühen Nachmittag ist es offiziell und Schulz so weit: „Daher erkläre ich hiermit meinen Verzicht auf den Eintritt in die Bundesregierung und hoffe gleichzeitig inständig, dass damit die Personaldebatten innerhalb der SPD beendet sind.“ Die Diskussion um seine Person habe den Erfolg beim Mitgliederentscheid über eine große Koalition gefährdet. Und weiter: „Wir alle machen Politik für die Menschen in diesem Land. Dazu gehört, dass meine persönlichen Ambitionen hinter den Interessen der Partei zurückstehen müssen.“

Die Frage ist, ob die Klärung die Partei befriedet oder das Chaos nur noch vergrößert, ob der Verzicht eine Entscheidung der Mitglieder zugunsten des Koalitionsvertrags mit der Union erleichtert oder vielmehr der No-GroKo-Bewegung Auftrieb gibt. Offen ist auch, wer Außenminister der nächsten Regierung werden soll. Wer könnte womöglich der lachende Dritte werden?

Tatsächlich hatte der Chefdiplomat dem Parteichef den Rest gegeben, als er im Gespräch mit dieser Zeitung beklagte, er fühle sich von der SPD-Führung respektlos behandelt. Gabriel wollte keine gute Miene zum bösen Spiel machen. Ihm war versprochen worden, er könne im Amt bleiben. Nun wollte er seine Enttäuschung nicht verbergen.

Wortbruch. Der Vorwurf steht im Raum, wiegt schwer und wirft eine Frage auf, die die Sozialdemokraten derzeit am meisten quält: nach ihrer Glaubwürdigkeit. Schulz hatte eine große Koalition und dann auch einen Platz im Kabinett von Angela Merkel (CDU) für sich ausgeschlossen – bloß um hinterher zweimal nicht Wort zu halten. Seine Hoffnung war wohl, er könne in einem Amt, in dem fast jeder Minister populär wurde, wieder neu durchstarten.

„Eine totale Last“ sei die Diskussion, stöhnt ein Präsidiumsmitglied ob der Eskalation der Ereignisse. Jetzt sind alle aber auch irgendwie erleichtert. „Unausweichlich“ nennt SPD-Vize Ralf Stegner den Schritt seines Parteichefs. „folgerichtig“, meint Familienministerin Katarina Barley. Michael Groschek, der Chef des NRW-Landesverbandes erklärte, Schulz leiste „einen notwendigen Beitrag dazu, die Glaubwürdigkeit der SPD zu stärken“. Barbara Hendricks, amtierende Umweltministerin, lobte in der „Rheinischen Post“, es sei die höchste politische Tugend, „persönliche Interessen hinter denen des Landes zurückzustellen“. Jetzt müsse die Partei das vergangene Jahr aufarbeiten, so Hendricks, „den Wahlkampf, die Aufstellung innerhalb der Partei und auch die Art und Weise des Umgangs miteinander“. Auch andere hochrangige SPD-Vertreter sehen die Notwendigkeit für eine Debatte über eine Neuausrichtung ihrer Partei. „Ich glaube, dass wir gut beraten sind, darüber zu reden, um was es jetzt wirklich geht. Das ist die Zukunft Deutschlands und die Fragen, die in dem Koalitionsvertrag mit der Union eine Rolle spielen“, warnt SPD-Vize Ralf Stegner seine Partei. „Für alles andere habe ich wenig Verständnis, und es hilft uns auch nicht. Im Gegenteil, es trägt ja eher immer dazu bei, eine Karikatur von Politik zu befördern“, so Stegner weiter.

Ein Quantum Trost und Verständnis bringt selbst Kevin Kühnert für seinen Vorsitzenden auf. Kühnert ist der Juso-Chef, der die No-GroKo-Gegner anführt und Schulz eine Niederlage bereiten will. Einerseits. Dass Schulz zuletzt doch ins Kabinett gehen wollte und es vorher gesagt hatte, findet Kühnert andererseits „erst mal fair, weil das für viele Mitglieder nicht ganz irrelevant für deren Entscheidung ist, ob man diese Kehrtwende mit vollziehen möchte oder nicht“, erklärte er Reuters TV.

Bemerkenswert ist, dass nur wenige Gabriel in Schutz nehmen – und vor allem keiner aus der engeren Führung. Zu nervig, zu aufbrausend, zu unberechenbar, zu viele offene Rechnungen. Aufreizend unsentimental kommentiert Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann: „Ämter werden nur auf Zeit vergeben. Damit muss er sich abfinden, und ich glaube, das schafft er auch.“ Die Zustimmung für den Rücktritt von Schulz darf nicht als Solidarität mit Gabriel ausgelegt werden. Wer hat wem übel mitgespielt? Gerade Leute, die Schulz nahe stehen, trauen ihm zu, dass er Gabriel das Auswärtige Amt versprochen hat, irgendwann im Überschwang der Gefühle. So ist der Mann. Und wahrscheinlich hat er es auch so gemeint. So wie er ehrlich nicht in eine große Koalition gehen und Kanzlerin Angela Merkel nicht als Minister dienen wollte. Er hatte bloß jedes Mal nicht das Ende bedacht. Und die Realität richtete sich in den vergangenen zwölf Monaten auch nur selten nach dem, was Schulz wollte.

Dabei waren die klaren Ansagen an die eigene Partei und Aussagen gegen eine große Koalition und zur Distanzierung von der CDU-Kanzlerin der Versuch gewesen, sich freizumachen nach einem schwierigen Wahlkampf. Schulz, der Hoffnungsträger, mit hundert Prozent zum Parteichef gewählt, war optimistisch gestartet. Doch drei verlorene Landtagswahlen bremsten ihn aus.

Dass Schulz verunsichert und angeschlagen war, das war nicht zu übersehen gewesen. Mit einer so rasanten Abwärtsentwicklung hatten die meisten in der SPD-Führung allerdings dann doch nicht gerechnet. Viele Vorstandsmitglieder wurden gestern von der Nachricht überrascht, nicht wenige hatten sich für die Karnevalszeit abgemeldet.

Öffentlich gibt es sehr viel Lob für einen, den viele Parteifreunde hinter vorgehaltener Hand für wankelmütig erklärt und dem sie Führungsunfähigkeit attestiert hatten. Von „menschlicher Größe“, die seine Entscheidung zeige, ist jetzt die Rede, von Anerkennung und davon, dass man Schulz für diesen Schritt „Respekt“ zolle. So drückt es Andrea Nahles aus, seine Nachfolgerin an der Parteispitze. Auf sie und auf den designierten Finanzminister und Vize-Kanzler Olaf Scholz konzentriert sich jetzt die innerparteiliche Macht in der SPD. Sie sind die neuen Kraftzentren. Konnten sie Martin Schulz den Rückzug nicht mehr ausreden oder wollten sie das gar nicht?

Sigmar Gabriel ist wieder in der Spur als Außenminister

Der Außenminister stellte unterdessen klar, dass er doch zur Münchner Sicherheitskonferenz in der kommenden Woche fahren will, weil viele Außenpolitiker anwesend sind und weil der deutsche Außenminister dabei nicht fehlen darf. Das Auswärtige Amt beeilte sich, klarzustellen, dass Gabriel mitnichten alle seine Termine abgesagt habe. An seiner Partei mag er zwar die Lust verloren haben, an der Außenpolitik nicht. Wer kommt nach Sigmar Gabriel?