Andrea Nahles soll von Martin Schulz den Parteivorsitz übernehmen – mit Vizekanzler Olaf Scholz bildet sie dann das Führungsduo der Sozialdemokraten

Andrea Nahles ist das Zen-trum. Um 10.38 Uhr verschickt die SPD-Spitze an ihre Anhänger eine Whatsapp-Nachricht: „Müde. Aber zufrieden. Der Vertrag steht! Endlich.“ Dazu gibt es ein Foto. Mittendrin sind Nahles und Olaf Scholz zu sehen. Martin Schulz steht hinter Nahles. Ein bisschen abseits reckt er den Hals und lächelt müde für das Selfie.

Der gescheiterte Kanzlerkandidat will Außenminister werden, die für ihn zu schwere Bürde des Parteivorsitzes aber an Nahles weiterreichen. Scholz, mit dem sich Nahles gut versteht, soll Finanzminister und Vizekanzler werden. Und so symbolisiert dieses Bild die künftigen Machtverhältnisse in der SPD nach der ultralangen Verhandlungsnacht.

Am Abend stehen Schulz und Nahles im Willy-Brandt-Haus. Schulz ist ernst. Er habe die Lage ohne Illusionen betrachtet. Die SPD brauche ein starkes „politisches Zentrum“, um sich zu erneuern. Für ihn sei das kaum noch zu leisten gewesen. Deshalb wolle er mit Ende des Mitgliederentscheids Anfang März den Parteivorsitz an Nahles abgeben. Gewählt werden soll sie dann später auf einem Sonderparteitag. Schulz hebt hervor, mit Nahles werde es einen Generationenwechsel geben. Sie sei eine „sehr integrative Persönlichkeit“, die aber auch austeilen und einstecken könne: „Sie ist Hammer und Amboss zugleich“, sagt Schulz. Nahles, die Fraktionschefin bleibt, amüsiert sich da. Auf die Frage, was sie besser könne als Schulz, antwortet sie ironisch: „Stricken!“

Zum ersten Mal in der SPD-Geschichte wird bald eine Frau die älteste deutsche Partei führen. Seit der Bundestagswahl, die Schulz als Kanzlerkandidat mit nur noch 20,5 Prozent für die SPD krachend vor die Wand gefahren hatte, wuchs intern permanent der Druck auf ihn, den Vorsitz abzugeben. Nahles blieb stets loyal. Sie sei Schulz dankbar, wie souverän und freundschaftlich er den Wechsel eingeleitet habe.

Dabei war der 62-Jährige erst im Dezember mit 82 Prozent als Parteichef wiedergewählt worden. Doch Schulz machte einen Fehler nach dem anderen. Als die FDP Jamaika platzen ließ, blieb er auf Oppositionskurs – bis ihn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf das GroKo-Gleis setzte. Dazu kam sein Versprechen am Tag nach der Wahl, nicht unter Angela Merkel Minister zu werden. Nun will er doch Außenminister sein – seit Tagen wurde Schulz im innersten Führungszirkel vorgehalten, dass diese Entscheidung ein unkalkulierbares Risiko für den anstehenden Mitgliederentscheid wäre.

Der „Mister Europa“ Schulz aber will sich die Chance nicht entgehen lassen, als Außenminister – gemeinsam mit Finanzminister Scholz – eine neue deutsche Europa-Politik anzustoßen. Vom Ende des Spardiktats spricht Schulz – es wird spannend sein zu beobachten, ob Schulz und Scholz der Kanzlerin ihren Kurs aufzwingen können. Der Preis, den Schulz für das Ministeramt bezahlt, ist hoch. Allerdings konnte er den von Sigmar Gabriel geerbten Parteivorsitz nie richtig ausfüllen. Die Last der historischen 100 Prozent, mit der Schulz im März 2017 als vermeintlicher Heilsbringer an die Spitze gewählt wurde, war viel zu schwer.

Wie stark Nahles in der SPD ist, zeigte sich beim Sonderparteitag Ende Januar. Dort rettete sie mit einer leidenschaftlichen Rede Schulz den Hals. Ohne Nahles („Wir werden verhandeln, bis es quietscht!“) wäre die Abstimmung in Bonn wohl schiefgegangen. Nahles und Schulz können für sich beanspruchen, in den GroKo-Nächten bei der Union einiges herausgeholt zu haben. Die SPD bekommt die großen Ministerien Finanzen, Außen und Arbeit/Soziales. Genau wie 2005. Damals brachte es die Partei auf über 34 Prozent, jetzt sind es noch 20.

Ihr Berufswunsch: Hausfrau oder Bundeskanzlerin

Der Personalwechsel könnte sich als geschickter Schachzug erweisen, um die Basisbefragung zum Koalitionsvertrag zu gewinnen. Die rund 464.000 Mitglieder dürften sich genau überlegen, ob sie mit Nein stimmen und damit Nahles sofort beschädigen würden. Aber in welche Richtung will Nahles die Partei führen? Bei vielen dürfte ihr noch ein Image als linker Bürgerschreck anhaften – dabei verfolgt Nahles längst eine pragmatische linke Politik. Aber einige Bilder von früher bleiben.

Als fröhliche oder auch keifende Juso-Nervensäge wurde die einstige Chefin der SPD-Nachwuchsorganisation tituliert, als krawallige SPD-Linke, als Sponti-Rednerin mit Potenzial für Peinlichkeiten. Noch immer ist im Internet ihre Gesangs-Einlage im Bundestag mit einem auf Kanzlerin Angela Merkel gemünzten Pippi-Langstrumpf-Lied ein Renner. Bei der Agenda 2010 lieferte sie sich viele Schlachten mit Gerhard Schröder. Dabei stimmt das alte Image schon lange nicht mit der Wirklichkeit überein. Nahles war als Bundesarbeitsministerin fleißig und diszipliniert. Dutzende Gesetzesvorhaben setzte sie durch, die Kanzlerin schätzt Nahles.

Doch nun wird Nahles zu einer Rivalin der CDU-Vorsitzenden. Stärke und Schwäche zugleich ist ihre große Klappe. Durch ihre Sprüche wirkt die Mutter einer Tochter aus der Vulkaneifel bodenständig. Doch manchmal wird es zu schrill. „Ab morgen kriegen sie in die Fresse“, sagte Nahles nach ihrer letzten Kabinettssitzung als Arbeitsministerin in Richtung der Unionskollegen. Es war ein Witz, aber der flog ihr als flegelhaftes Verhalten um die Ohren. Ein paar Wochen später fiel sie mit diesem Spruch zur GroKo auf: „Das wird ganz schön teuer. Bätschi.“

Sollte Nahles auf einem Sonderparteitag gewählt werden, wartet eine Herausforderung auf sie. „Ich kann und will mich dieser Aufgabe stellen.“ Die SPD müsse sich in der Regierung erneuern – als Team, mit neuem Stil. Als SPD-Chefin muss Nahles der Partei eine Machtperspektive verschaffen. Vielleicht kommt Rot-Rot-Grün irgendwann in Mode. Nahles hat nun beste Chancen, 2021 Kanzlerkandidatin der SPD zu werden (Olaf Scholz hat das übrigens auch vor). In ihr Abi-Jahrbuch hatte sie als Berufswunsch geschrieben: Hausfrau oder Bundeskanzlerin.