Andreas Dressel holte für Scholz die Kastanien aus dem Feuer – und durfte ihm widersprechen. Peter Ulrich Meyer über den Mann, der bald neuer Senatschef in Hamburg werden könnte

Gerhard Schröder hat einst am Tor des Bundeskanzleramts gerüttelt, um seinen Machtwillen zu demonstrieren. Henning Voscherau ging als SPD-Fraktionschef im Hafenstraßen-Konflikt Ende der 80er-Jahre erst auf Distanz zu Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und trat dann sogar zurück, ehe der seinerseits genervt aufgab und Voscherau sein Nachfolger als Bürgermeister wurde. Am Sturz des Sozialdemokraten Peter Schulz als Hamburger Erster Bürgermeister war Mitte der 70er-Jahre nicht zuletzt sein Nachfolger Hans-Ulrich Klose beteiligt.

Andreas Dressel, seit fast sieben Jahren SPD-Bürgerschaftsfraktionschef, verheiratet und Vater dreier Kinder, hat nicht an der schmiedeeisernen Tür zur Ratsstube gerüttelt, wo der Senat tagt, oder mit den Hufen gescharrt. Trotzdem gilt der 43 Jahre alte Jurist als der fast automatische Nachfolger im Amt des Ersten Bürgermeisters, wenn sich Olaf Scholz nach Berlin aufmacht, um Finanzminister der Großen Koalition zu werden – vorausgesetzt, die SPD-Mitglieder stimmen überhaupt für die Neuauflage des Bündnisses mit der Union.

Dressel mangelnden Ehrgeiz zu unterstellen wäre falsch. Seine politische Karriere ist dazu viel zu zielstrebig verlaufen: Vom quirligen Oppositionspolitiker, der den damaligen CDU-geführten Senat von 2004 an mit zahllosen Kleinen Anfragen zu innerer Sicherheit und Justiz nervte, der sich als Abgeordneter zudem schnell in Verfassungs- und Wahlrechtsfragen profilierte, bis hin zum Aufstieg zum Fraktionsvorsitzenden vergingen nur wenige Jahre. Und in dem Job ist Dressel seitdem unangefochten: Erst im Oktober 2017 wurde er mit 93 Prozent wiedergewählt.

Dass Dressels Name seit Jahren sofort fällt, wenn es um die Nachfolge von Scholz geht, hängt zudem stark mit dessen Machtarchitektur zusammen. Die Senatoren sind „unter“ Scholz im Wesentlichen auf ihr Ressort beschränkt, eine Profilierung über die Behördengrenzen hinaus ist jedenfalls für die SPD-Senatsmitglieder kaum möglich. Scholz führt eben ... Der einst streitfreudige Hamburger Landesverband der SPD ist mehr und mehr zu einem Regierungsanhängsel geworden, seit Scholz Parteichef ist.

In dieser Konstellation kommt dem SPD-Bürgerschaftsfraktionsvorsitzenden, einem starken wie Dressel zumal, eine entscheidende Rolle zu. Schon zu Zeiten der SPD-Alleinregierung bis 2015, aber erst recht jetzt in einer rot-grünen Koalition erledigt Dressel die Aufgabe des Mehrheitsbeschaffers souverän. Daraus folgt auch: Wenn es einen gibt, der im System Scholz aus eigenem Gewicht dem Bürgermeister widersprechen und Paroli bieten kann, dann ist es Dressel. Der war klug genug, es auf einen Konflikt nie wirklich anzulegen.

Andererseits hat der Fraktionschef für den Bürgermeister früh die Kastanien aus dem Feuer geholt. Als Scholz und die SPD den Volksentscheid über den Rückkauf der Energienetze 2013, wenn auch knapp, verloren, zog Dressel einen Zehn-Punkte-Plan aus der Tasche, um den nun vom Volk aufgezwungenen Rückkauf umzusetzen, statt im Schmollwinkel zu verharren. Und es waren Dressel und sein Amtskollege Anjes Tjarks von den Grünen, die auf dem Höhepunkt der Kritik an der überstürzten Zuwanderung von Flüchtlingen 2016 einen Kompromiss mit der Volksinitiative „Gute Integration“ über Unterbringung und Verteilung der Flüchtlinge erzielten und so einen Volksentscheid verhinderten, der vielleicht zu einem Plebiszit über die Akzeptanz von Flüchtlingen insgesamt geworden wäre.

Bürgermeister Scholz wirkte in diesen Situationen manchmal wie abgetaucht – auch wegen seines schon immer starken bundespolitischen Engagements. Dressel blieb dennoch absolut loyal, er profilierte sich in diesen politisch durchaus heiklen Situationen – aber nicht auf Kosten von Scholz. Ja, alle Schritte des Fraktionschefs waren eng mit dem Bürgermeister abgestimmt. Nachdem Dressel und Tjarks nun bereits mehrfach erfolgreich ihre Konsens- und Kompromissfähigkeiten in Verhandlungen mit Volksinitiativen erprobt haben, führen sie nicht nur den Ehrentitel „A-Team“, sondern haben sich fast als eine Art Nebenregierung etabliert.

Dabei wird offenbar, dass die große Stärke des Politikers Dressel in der Kommunikation liegt. Er hat sich auch nach Jahren als Spitzenpolitiker eine Art bewahrt, recht unbefangen auf Menschen zuzugehen. Er kann nach wie vor gut zuhören. Eine Voraussetzung dafür ist, dass Dressel als junger Familienvater die Bodenhaftung nie verloren hat. Die Probleme, die Eltern mit der Kita oder der Schule ihrer Kinder haben können, sind ihm aus eigener Erfahrung vertraut. Eine weitere Voraussetzung: Dressel lebt mit seiner Familie im gutbürgerlichen Volksdorf, engagiert sich in örtlichen Initiativen und kennt die Region Walddörfer/Alstertal wie seine Westentasche. Er ist sich nicht zu schade, um vor Ort in Volksdorf in langwierigen Gesprächen etwa einen Kompromiss zum Erhalt eines Herrenhauses zu erzielen. Der Lohn sind sehr gute Wahlergebnisse, die Dressel als Direktkandidat für den Wahlkreis erzielt und die hamburgweit ihresgleichen suchen.

Bezeichnend ist, dass Kommunikator Dressel an einem Tag wie dem gestrigen, an dem halb Hamburg über ihn als möglichen Scholz-Nachfolger diskutiert, nicht schweigt – anders als Scholz selbst. „Der Respekt vor den Mitgliedern unserer Partei, die jetzt das letzte Wort haben, gebietet, den Mitgliederentscheid abzuwarten“, verbreitete Dressel in einer schriftlichen Erklärung. „Sollten sich aus einem positiven Votum und der Kabinettsbildung in Berlin Nachfolgefragen in Hamburg stellen, werden wir zu gegebener Zeit solidarisch und gemeinschaftlich in Partei und Fraktion einen Personalvorschlag unterbreiten“, schrieb der SPD-Politiker. Da zeigt sich fraglos Dressels politischer Lieblingsstil: ein Teamplayer unter Gleichgesinnten ...

Als Generalist, der ein Fraktionsvorsitzender gewissermaßen qua Amt ist, bringt Dressel eine wichtige Qualifikation für die Querschnittsaufgaben eines Bürgermeisters mit. Ein Vorteil ist zweifellos auch, dass er die Hamburger Verwaltung, bisweilen durchaus ein Gegenpol zu Senat und Bürgerschaft, aus eigener Erfahrung kennt. Bis Dressel Vollzeitpolitiker wurde, war er als Regierungsrat Referatsleiter in der Stadtentwicklungsbehörde.

So unumstritten Dressels Qualifikation für das höchste exekutive Amt im Stadtstaat ist: Was dem talentierten Fraktionsvorsitzenden fehlt, ist das eine große politische Thema, ist eine zentrale politische Botschaft, die sich mit seinem Namen verbindet. Dressel ist pragmatischer Macher, ein durchsetzungsfähiger Troubleshooter im Rathaus – aber er setzt bislang keine eigenen großen programmatischen Akzente.

Der Weg von der Fraktionsspitze auf den Bürgermeisterstuhl im Senat bedeutet einen tief greifenden Rollenwechsel. Viele Hamburger projizieren auf den Bürgermeister eine Machtfülle, die er nicht wirklich hat. Es entspricht der Erwartung vieler, dass der Erste Bürgermeister führt, entscheidet und von einer gewissen normativen Strenge gekennzeichnet ist. Scholz erfüllt diese Rolle perfekt, Dressel gilt vielen als ein geradezu gutmütiger Mensch.

Auch hier gilt: Der Volksdorfer sollte nicht unterschätzt werden. Er kann auch anders als nur nett sein. Ein Beleg für seinen generellen Führungsanspruch ist die konsequente Absicherung der eigenen Machtbasis in der SPD. Dressel ist seit dem vergangenen Jahr Vorsitzender der Wandsbeker SPD, des mitgliederstärksten Hamburger SPD-Kreisverbands. Parteifreunde berichten, dass Dressel auch beinhart sein kann, wenn es um die Klärung innerparteilicher Machtfragen oder die Vergabe ­lukrativer Posten wie etwa Bundestagskandidaturen geht.

Politische Wegbegleiter, die Dressel gut kennen, haben beobachtet, dass er in den zurückliegenden Wochen seine Zurückhaltung in eigener Sache insoweit ein wenig abgelegt hat, als er auch innerhalb der rot-grünen Koalition doch gelegentlich den „Bestimmer“ gibt. So hatte er die derzeit laufenden Gespräche mit der Opposition über einen Vollzugsfrieden – eine mehrjährige Festlegung über den Ausbau der Haftanstalten – schnell zur Chefsache erklärt und dem Fachpolitiker seiner Fraktion aus der Hand genommen. Das mögen kleine Indizien sein, dass sich Dressel auf eine neue Rolle vorbereitet.

Der erfahrene Politiker weiß, dass eine solche Bürgermeisterkandidatur in der SPD kein Selbstgänger wäre. Schon fallen auch andere Namen wie der von Sozialsenatorin Melanie Leonhard als möglicher Scholz-Nachfolgerin (siehe Bericht Seite 6). In der Hamburger SPD sind die Zeiten der Flügelkämpfe zwar vorbei, aber wenn es um wichtige Personalien geht, spielen die alten Loyalitäten immer noch eine Rolle. Dressel entstammt als Pragmatiker dem Mitte-rechts-Flügel seiner Partei, der in den Scholz-Zeiten Mainstream ist, aber er hat sich auch bei den verbliebenen Linken Respekt verschafft.

Sollte Scholz gehen, so viel ist klar, steht die Hamburger SPD vor einem umfassenden personellen Revirement. Auch die Frage, wer im Falle eines Wechsels von Dressel neuer Fraktionschef wird, ist dabei umstritten. Dem Eimsbütteler SPD-Kreischef Milan Pein, den Dressel als Vorsitzenden des G-20-Sonderausschusses installiert hatte, werden dabei gute Chancen eingeräumt.