Calais/Paris.

Zum ersten gewaltsamen Zusammenstoß kommt es kurz nach Donnerstagmittag. In der Nähe eines Krankenhauses im Zentrum der nordfranzösischen Stadt Calais geben Mitarbeiter einer lokalen Hilfsorganisation Essen an Flüchtlinge aus – an Männer, die Wollmützen und Winterjacken tragen. Nacheinander nähern sie sich den großen Töpfen, bekommen einen Plastikteller mit Kartoffeln, Gemüse oder Fleisch. Plötzlich stürzen sich rund 100 Flüchtlinge aus Eritrea auf etwa 30 Afghanen. Es gibt eine Massenschlägerei. Dabei zieht ein Afghane einen Revolver, mehrere Schüsse fallen. Fünf Migranten werden lebensgefährlich verletzt.

Nur eine halbe Stunde später folgt eine weitere Auseinandersetzung. Auf einem fünf Kilometer entfernten Indus­triegelände greifen mehr als 100 Eritreer eine Gruppe von Afghanen mit Eisenstangen und Stöcken an. Erst ein massiver Polizeieinsatz kann die Menge auflösen. 18 Menschen werden verletzt.

Frankreichs Innenminister spricht klare Worte

Die Ursache für den Gewaltausbruch ist zunächst unklar. François Guennoc von der Hilfsorganisation „Auberge des Migrants“ verweist aber darauf, dass Schleuser in Calais versuchten, wichtige Orte zu kontrollieren und sich das von den Migranten bezahlen lassen. Der Präsident der Hilfsorganisation „Salam“, Jean-Claude Lenoir, spricht von Verbitterung bei den Flüchtlingen, die er auf „tägliche Belästigung“ durch die Sicherheitskräfte zurückführt. Die Organisationen werfen der Polizei immer wieder vor, zu hart gegen Migranten vorzugehen und ihnen etwa Zelte wegzunehmen.

Die französische Regierung ist alarmiert. Innenminister Gérard Collomb reist noch in der Nacht zum Freitag nach Calais. Vor einer Batterie von Fernsehkameras legt er seine Stirn in Falten, redet von einem „nie gekannten Ausmaß an Gewalt“ – hinter der Schlepperbanden steckten. „Wir können nicht das Recht des Stärkeren in unserem Land herrschen lassen.“ Er spricht ruhig, aber die Botschaft ist klar: Der Staat werde diese Situation nicht dulden. Noch am Freitag werden 150 zusätzliche Gendarmen der Einsatzgruppe CRS nach Calais verlegt. Gleichzeitig kündigt der Innenminister an, dass Hilfsorganisationen künftig nicht mehr Essen ausgeben dürften. Ab Mitte Februar sollen sich allein die Behörden um die Versorgung der Migranten kümmern.

Von Calais aus ist die Küste Großbritanniens bei gutem Wetter mit bloßem Auge zu erkennen. Die Flüchtlinge sehen darin das gelobte Land, in dem sie ein besseres Leben erwartet. Laut Schätzungen halten sich derzeit bis zu 800 Migranten in Calais auf. Sie haben in der Vergangenheit immer wieder versucht, auf dem Seeweg oder durch den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen. Seit die Regierung in Paris im Herbst 2016 den berüchtigten „Dschungel“, ein wildes Flüchtlingslager mit mehr als 8000 Bewohnern, räumen ließ, leben die Migranten auf der Straße oder in kleinen Zeltlagern im Stadtgebiet. Nach Angaben von Hilfsorganisationen hausten sie in erbärmlichen Verhältnissen, die noch schlimmer seien als vor ein, zwei Jahren. Es herrsche ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf um Nahrung und Schlafplätze.

Staatspräsident Emmanuel Macron war erst Mittle Januar nach Calais gekommen. Er versprach eine härtere Gangart gegenüber „Wirtschaftsflüchtlingen“. Macron sagte: „Calais ist kein Einfallstor nach Großbritannien, Calais ist eine Sackgasse.“ Immer wieder hatte Macron klargemacht, dass Menschen, die nur der Armut entfliehen wollten, keinen Platz in Frankreich hätten.

Dass Frankreich weder Kosten noch Mühen scheut, um die Flüchtlinge abzuschrecken und sie am illegalen „Sprung“ nach Großbritannien zu hindern, ist kein Geheimnis. Dazu gehört, dass bei Calais der weitläufige Terminal des Eurotunnels in eine regelrechte Festung verwandelt wurde. Ein bis zu vier Meter hoher Doppelzaun mit Nato-Draht umgibt das 650 Hektar große Gelände. Alarmanlagen und Überwachungskameras melden jeden unbefugten Zutrittsversuch. 500 Polizisten sowie 200 Sicherheitskräfte der Eurotunnel-Gesellschaft patrouillieren Tag und Nacht, um Eindringlinge abzufangen. Abschrecken lassen sich die Flüchtlinge nicht. Allein 2017 haben Migranten rund 115.000-mal versucht, in das Sperrgebiet zu gelangen. Immer wieder verlieren sie bei halsbrecherischen Aktionen ihr Leben – wenn sie etwa auf einen fahrenden Lkw oder Zug aufspringen wollen.

Zu groß ist für die Migranten der Traum vom Sehnsuchtsland Großbritannien. Weil die Arbeitslosenquote dort nur halb so hoch ist wie in Frankreich, weil die Briten Asylanträge rascher und großzügiger bearbeiten als die Franzosen, weil die Identitätskontrollen vergleichsweise weniger streng sind und weil der Zugang zu medizinischer Versorgung einfacher ist. Theoretisch könnten sich die meisten Flüchtlinge, die aus den Krisenländern Irak, Syrien, Eritrea, Sudan oder Afghanistan stammen, zwar auch in Frankreich Hoffnungen auf Asyl machen. Aber sie glauben, dass sie in Großbritannien bessere Chancen haben. Zumal viele Englisch sprechen, aber nur wenige Französisch.