Kutupalong.

Akram läuft schnell durch sein neues Dorf. Die Häuser sind hier Zelte. Er ist gut gelaunt und etwas aufgeregt, zu jeder Behausung fällt ihm etwas ein – bei einem Friseurzelt („sobald die Sonne aufgeht, hat der zu tun“), beim Mobiltelefon-Zelt („da lade ich jeden Tag mein Telefon auf“) und bei einem Brunnen („den haben wir selbst gegraben“). Nach fünf Minuten ist er vor seinem Heimat-Zelt angekommen, rund 16 Quadratmeter für sieben Menschen. „Ich schlafe gleich hier am Eingang“, sagt er, „mein Bruder mit seiner Familie hat den ruhigen Teil im hinteren Bereich.“ Akram ist 25 Jahre alt, er zeigt die Matten, die zusammengerollt auf dem Erdboden liegen, die Töpfe, die Tassen und das Geschirrtuch, das über einem Bambusstab hängt, alles Spenden. Seine Eltern schlafen in dem Teil, der tagsüber die Küche ist.

Vor vier Monaten haben sich rund 650.000 Rohingya auf eine der größten Massenwanderungen der Welt begeben, auf der Flucht vor Gewalt und Tod in ihrem Heimatland Myanmar – und was diese muslimische Minderheit im Südosten von Bangladesch innerhalb kurzer Zeit errichtet hat, ist trotz der wenigen Mittel ein Wunder an Sauberkeit und Ordnung. Neben manchen Zelten sind kleine Beete angelegt, auf vielen Dächern liegen Solarfelder zur Stromgewinnung. Schnell haben sich kleine Geschäfte gebildet, Kindern spielen entspannt miteinander, Fremden wird zugejubelt. Rund die Hälfte der Flüchtlinge seien Kinder, schätzte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, kürzlich und in Kutupalong kann man es sehen, vor allem hören: ihr Schreien, Lachen und Weinen.

Woher der Name dieses Volkes kommt, ist nicht klar, wahrscheinlich hängt er mit dem Gebiet zusammen, aus dem sie jetzt geflohen sind: Rakhaing, eine Gegend im äußersten Nordwesten Myanmars, wo sie mit 90 Prozent die Mehrheit stellen. Die Rohingya selbst sagen, sie wohnen seit Jahrhunderten dort, die Burmesen behaupten, sie seien vor allem in der britischen Kolonialzeit an diesen Ort gekommen – und sehen in ihnen vor allem eine Bedrohung. Der Hauptgrund: Die Rohingya sind Muslime, die Burmesen Buddhisten.

Akram sitzt jetzt vor seinem Zelt und trinkt Tee. „Seit zwei Wochen haben wir Milchpulver und können wieder Laphet zubereiten.“ Das sei der Tee, den er aus der Heimat kenne. Vielleicht sei deshalb seine Laune so gut. „Bisher war ein guter Tag“, sagt er, „es gab neue Bambusstäbe für die Türen und wir haben jetzt ein Moskitonetz.“ Er habe sich mit Freunden getroffen und „Selong“ gespielt, bei dem man einander einen Ball mit Kopf und Füßen zuspielt. „Wenn ich zu lange nichts tue“, sagt er, „muss ich an Zuhause denken.“ Dann erzählt er, warum er so lange nicht schlafen konnte und sein optimistisches Lächeln verschwindet: „Es begann am 25. August, sie kamen nachts und sie hatten Gewehre dabei und dann … Boom! Boom!“ Immer wieder wurde ein anderes Haus in der Nachbarschaft überfallen, Männer wurden getötet, Frauen vergewaltigt. Er kann sich an einen Fluss erinnern, in dem Leichen vorbeitrieben. Seine Familie zog zuerst zu Verwandten, doch auch dort waren sie nicht sicher. Nach vier Tagen sind sie losgelaufen, nur weg.

Der 25. August 2017 ist für viele der Rohingya ein Tag, der alles veränderte. An dem Tag griff die radikale Gruppe „Befreiungsarmee der Rohingya“ 24 Polizeistationen der Burmesen an und sorgte damit für jene Eskalation, die schließlich zu der Massenflucht nach Bangladesch führte. Niemand der Flüchtlinge in Kutupalong unterstützt offen die Befreiungsarmee, die meisten wollen nicht einmal von ihr sprechen, zu groß ist die Angst vor den Radikalen.

Je mehr man über das Leben der Rohingya erfährt, über den Hass der Mehrheit auf die Minderheit, über das Überleben in einem Land, in dem sie nicht willkommen sind, über die Angst der Burmesen vor der „Fruchtbarkeit“ der Rohingya, die tatsächlich große Familien haben – umso näher rückt das Schicksal dieses Volkes auch an Europa heran: Denn auch Europäer haben seit der Flüchtlingskrise 2015 Erfahrung mit diesem Phänomen: Zeltlager in Idomeni, Massenwanderungen auf der Balkanroute, Perspektivlosigkeit in Abschiebelagern – und überall die wachsende Angst vor einer Islamisierung. Hier wie dort gab es Proteste, Demonstrationen vor Flüchtlingsheimen. Auch das gab es bei den Rohingya: auf der Flucht Ertrunkene.

Shamina sitzt in einem dunklen Raum in einem anderen Teil der endlosen Lager-Landschaft in Kutupalong. Sie ist 35 Jahre alt und erzählt von der Überfahrt über einen Grenzfluss. „Meine Familie ist nachts in ein Boot gestiegen, es war voll, vielleicht 80 Menschen an Bord.“ Sie wurden überfallen und das Boot sank. „Am nächsten Tag fand ich meinen Mann, bewusstlos, aber am Leben.“ Nur neun der 80 Menschen überlebten. „Die Leiche meines Bruders habe ich selbst gefunden. Er war ertrunken.“

Solche Geschichten machen deutlich, warum die Hilfsorganisationen nicht nur mit Nahrungsmitteln, Medizin und Decken aushelfen, sondern auch psychologische Hilfe leisten. Die Kindernothilfe stellt rund 250.000 Euro zur Verfügung und die „Aktion gegen den Hunger“ ist mit etwa 600 Mitarbeitern vor Ort. Auch das gehört zur Infrastruktur in Akrams kleinem Zeltdorf: Räume, in denen traumatisierte Kinder und Erwachsene das Erlebte verarbeiten.

Der Arzt Jubayer Mumin arbeitet seit wenigen Monaten in einem kleinen Krankenhaus speziell für unterernährte Kinder. Er erzählt, er habe Babys untersucht, deren Mütter sie vernachlässigten, weil sie nicht die mentale Kraft hatten, sich um sie zu kümmern. „Die Not hat ihren Mutterinstinkt abstumpfen lassen.“ Deshalb behandelt Mumin immer Mütter und Kinder gleichzeitig. Er sagt, mehr als 5000 Rohingya-Kinder seien unterernährt, einige von ihnen so stark, dass sie stationär für Wochen behandelt werden – „vor allem wegen Folgekrankheiten der Flucht, wie Durchfall oder Lungenentzündung“.

Akram hatte bisher keine Krankheit. Im Gegenteil, er hat nach dem Schlangestehen für Essen, Wasser oder Seife Zeit übrig, sodass er häufig leichte Arbeiten für die ausländischen Organisationen im Lager übernimmt. „Wir müssen beim Verteilen von Babynahrung die Tüten aufschneiden“, sagt er, „damit die Mütter sie nicht weiterverkaufen.“ Freunde von ihm engagieren sich in der Säuberung der Latrinen. Für Hilfsarbeiten zahlen die Organisationen zwischen 1000 und 2800 Taka. Ein Taka entspricht einem Euro-Cent. „Das Geld reicht nicht aus, um meine Familie zu ernähren“, sagt Akram, „aber ich kann zumindest etwas tun.“ Die gute Nachricht: Experten, die sich schon länger mit den Rohingya beschäftigen, sagen, dass sie hier besser betreut werden, als früher in Myanmar. Dort wurden Hilfsorganisationen in ihrer Arbeit behindert, oder ihnen wurde vorgeworfen, Terror zu unterstützen. „Ärzte ohne Grenzen“ wurde 2015 ausgewiesen. Die burmesische Friedensnobelpreisträgerin und einflussreiche Politikerin Aung San Suu Kyi hat lange zu den Rohingya geschwiegen. Dabei galt sie als Ikone der Menschenrechtsbewegung, ihr Name wurde in einem Atemzug mit Ghandi und Mandela genannt. Experten sagen, dass auf diese Weise deutlich wurde, wie sehr ihre politische Funktion vom Wohlwollen des Militärs abhängt.

Pro Woche sollen rund 1500 Menschen heimkehren

Aktuell ist Bewegung in die Angelegenheit zwischen Bangladesch und Myanmar gekommen. In den kommenden Tagen soll schrittweise mit einer Rückführung der Rohingya begonnen werden. Es soll keine Abschiebung aus Bangladesch sein, sondern Myanmar bietet den freiwillig heimkehrenden Flüchtlingen die burmesische Staatsbürgerschaft an. Dafür müssten sie allerdings anerkennen, dass sie „ethnische Bengali“ seien – also keine „ursprünglichen“ Einwohner Myanmars. Es ist eine weitere Demütigung, die viele Rohingya ablehnen. Beide Länder hoffen trotzdem, dass pro Woche rund 1500 Menschen heimkehren wollen.

Aber selbst wenn diese Prognose eingehalten wird, sind in zwei Jahren noch immer drei Viertel der Rohingya in Bangladesch – zusätzlich zu denen, die sich schon vor Jahren wegen früherer Konflikte in Bangladesch niedergelassen haben. Ungeklärt ist auch, ob es ihre Häuser noch gibt und ob sie diese zurückfordern dürfen. Die burmesischen Gewalttäter sollen straffrei bleiben — auch das ist Teil des Abkommens. Immerhin hat kürzlich das Militär zugegeben, bei Gewaltaktionen beteiligt gewesen zu sein.

Auf die Frage, ob sie zurückgehen wollen, sind die Antworten der Rohingya sehr unterschiedlich. Einige wollen schnell in die Heimat oder wollen sogar einen eigenen Staat gründen. „Wenn wir unsere eigene Polizei hätten, dann wären wir sicher.“ Andere Rohingya reden davon, sich auf den Weg nach Westeuropa zu machen. Manche Menschen aus dem Lager in Kutupalon können sich auch eine Zukunft in Bangladesch vorstellen. Schließlich hat dieses Land sie aufgenommen, ist ebenfalls muslimisch geprägt, Heirat, Feiertage, Kleidung, vieles ist ähnlich – selbst die Sprache der Rohingya ähnelt einem Dialekt im Süden Bangladeschs. Die Premierministerin des Landes, Sheikh Hasina, wird auf Plakaten in den Straßen vor dem Camp als „Mother of Humanity“ gefeiert – „Mutter der Menschlichkeit“. Doch auch sie weiß um die Probleme des Landes: Es ist halb so groß wie Deutschland, hat doppelt so viele Einwohner und nicht einmal ein Zehntel des Pro-Kopf-Einkommens. Und: Bangladesch hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, nach der Asylsuchende nicht in Gegenden zurückgeführt werden können, in denen ihnen Verfolgung droht.

Akram ist optimistisch und glaubt, dass er und seine Familie eines Tages zurückkehren können. „Wenn sie uns die Staatsbürgerschaft ernsthaft geben, dann kann ich mir das auch schon bald vorstellen“, sagt er. „Allerdings weiß ich nicht, wie ernst sie das meinen. Aber wir haben noch ein Haus in dem Dorf Kalmaung Seik mit zwölf Zimmern.“ Sie hatten Wasser und Strom. Sie hatten eine Heimat und vor allem Sicherheit, auch vor der Regenzeit, die bald beginnt. Jetzt haben sie gar nichts, nur dieses Zelt, für das er gern ein Vorhängeschloss kaufen würde.

Denn wenn es Nacht wird in dem so sauberen Zeltdorf, wird es ungemütlich. Die jungen Soldaten Bangladeschs, die tagsüber mit den Jugendlichen „Selong“ spielen, ziehen sich zurück. Frauen trauen sich dann nicht vor die Tür, gehen nicht einmal auf die Toilette. Akram hat gehört, dass Kinder verschwunden sind, man erzählt sich von Menschen- und sogar Organhandel. Einer seiner Freunde brachte es neulich auf den Punkt, sagt er: „Wir sind für viele ein wertloses Volk.“

Nur wenige Autominuten von Kutupalong entfernt sitzt Junayed auf der Terrasse des Hotels Sayeman in der Stadt Cox’s Bazar. Von hier hat er einen guten Blick auf den längsten Strand der Welt. Er erstreckt sich 120 Kilometer von Norden nach Süden. Junayed ist Stoffhändler aus der Hauptstadt Dhaka, kommt jeden Monat her, den Stress des Alltags vergessen. „Meine Ehe ist arrangiert“, sagt er, „ich brauche auch mal meine Ruhe“. Diese Gegend sei bei Touristen beliebt.

Er sagt, er hege Sympathien für die Rohingya. „Am Anfang haben wir noch Kleiderspenden organisiert.“ In Zeitungen lese er jetzt, dass sie Drogen schmuggeln und die Wälder abholzen. „Das ist unser Holz“, sagt er. „Und was wird, wenn im April die Regenzeit beginnt?“ Die Hütten weichen auf. „Nein“, sagt der Geschäftsmann, „die Rohingya können hier nicht bleiben.“