Berlin.

Im Dezember wird Manfred Götzl 65 Jahre alt. Der NSU-Prozess wird der Schlussstein seiner Karriere. Was er als Vorsitzender Richter am 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts in München leiste, gehe an die Grenze dessen, „was ein Mensch normalerweise leisten kann“, glaubt Herbert Mertin (FDP). Solche Giga-Verfahren sind grenzwertig, der rheinland-pfälzische Justizminister und seine Länderkollegen wollen sie straffen. Um eine Obergrenze für die Verhandlungsdauer geht es nicht vorrangig – um eine zügigere Rechtsprechung aber schon.

Dieser Zeitung liegt eine interne Analyse des Bundesjustizministeriums vor, wonach eine Reform der Strafprozessordnung „notwendig“ ist. Das betreffe ausdrücklich sogenannte Umfangverfahren, „die die Gerichte zunehmend vor zeitliche, personelle und organisatorische Herausforderungen stellen.“ Ressortchef Heiko Maas (SPD) redet nicht offen darüber, weil er die Koalitionsverhandlungen abwarten will und nicht weiß, ob er Minister bleibt. Vor allem möchte er nicht als Kritiker des NSU-Prozesses dastehen.

Der Rechtsstreit in München hat viele Aspekte: die Scham über die rassistischen Verbrechen, die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden, die Auftritte der Hinterbliebenen der zehn Mordopfer, aber auch der (Leidens-)Prozess selbst vor Gericht. Die „Leistungsschau juristischen Durchhaltevermögens“ (Süddeutsche Zeitung) geht an diesem Dienstag mit dem 405. Verhandlungstag weiter. Am 6. Mai ist es fünf Jahre her, dass Richter Götzl das Verfahren eröffnete. Kaum ein Beobachter rechnet mit einem Urteil vor dem Jahrestag; die Termine bis zum Sommer stehen vorsorglich fest. Zum Vergleich: Die RAF-Verfahren dauerten zwei Jahre.

Als Gerichtssprecher Florian Gliwitzky zuletzt Ende Juli die Kosten veranschlagte, kam er auf mehr als 24 Millionen Euro. Geteilt durch die damals 374 Sitzungen waren es 64.000 Euro – pro Verhandlungstag. Dabei hatte er nicht mal alle Posten addiert, es fehlten die anfallenden Kosten (und Gehälter) für die fünf Richter sowie für die Staatsanwälte, und die eigentlichen Verfahrenskosten (Zeugen, Sachverständigen) werden sowieso erst nach Abschluss ermittelt. Für die Anwälte (Nebenklage und Verteidigung) fielen bis zum Sommer 20,256 Millionen Euro an, 2,177 Millionen Euro für die Hausverwaltung (der Sitzungssaal musste umgebaut werden) und für ein privates Sicherheitsunternehmen noch einmal 1,6 Millionen Euro.

Dass die Beweisaufnahme ein Geduldsspiel sein würde, war absehbar, geht es doch um zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle in einem reinen Indizienprozess. Das erfordert viel Sorgfalt. Außerdem ist Götzl penibel darauf bedacht, den Prozess revisionsfest zu machen, sodass ein Urteil nicht vom Bundesgerichtshof einkassiert wird, von der politischen Fallhöhe ganz zu schweigen. Es wäre ein Desaster, wenn das Verfahren platzen würde. „Wenn sich das lange hinzieht, kann das schon sehr problematisch sein“, mahnt der Mainzer Justizminister Mertin, „ein Verfahren rechtsstaatlich zu beenden, ist auch eine Aufgabe“. Für seinen bayerischen Kollegen Winfried Bausback (CSU) geht es nicht zuletzt um den Opferschutz, „weil es für ein Opfer auch wichtig ist, dass für einen bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung da ist“.

In München hat allein die Bundesanwaltschaft acht Tage lang plädiert. Aktuell sind die 95 Nebenkläger dran, die von 60 Anwälten vertreten werden. Danach schlägt die Stunde der 13 Pflichtverteidiger. Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat zwei Teams, ein frühes und ein spätes, die miteinander verkracht sind, und von dem eines schon angekündigt hat, dass es eine Unterbrechung beantragen wird. Ein weiterer Angeklagter hat ein Bandscheibenproblem, schon seinetwegen werden neue Pausen notwendig sein. Auch die Richter dürften für die Urteilsfindung ihre vierwöchige Frist voll ausschöpfen. Von den drei Ersatzrichtern sind bereits zwei ausgefallen. Inzwischen ist das Verfahren für alle Seiten zermürbend. Es mehren sich Zweifel an der Handlungsfähigkeit des Rechtsstaats, obwohl er in München doch wie unter Dampf funktioniert.

Immer wieder haben Verteidiger den Prozess mit Befangenheitsanträgen verzögert, die „allesamt abgelehnt“ worden seien, erzählt Opferanwalt Mehmet Daimagüller. Die Strategie ist so nervend wie allerdings auch legitim.

Dass man wie beim Love-Parade-Verfahren in Düsseldorf eine ganze Messehalle zum Gerichtssaal umfunktionieren muss, liegt allerdings nicht nur an den Verteidigern. Vielmehr hat der Bundestag im Laufe der Zeit den Opfern immer mehr Rechte zugestanden. Damit stieg die Zahl der Nebenkläger, die Kosten werden vom Steuerzahler getragen. Wer auf der Anklagebank sitzt, hat es nicht nur mit Richtern und Staatsanwälten zu tun, sondern auch mit den Nebenklägern und bei spektakulären Fällen mit den Medien. Ein Angeklagter braucht dann auch einen PR-Berater.

Ende des vergangenen Jahres forderten 80 Richter beim Strafkammertag in Würzburg, die Verfahren „effektiver praxistauglicher“ zu machen. Sie machten zwölf Vorschläge, darunter die Beschränkung der Zahl von Nebenklagevertretern. Auch sollten Zeugenfragebögen verlesen werden dürfen, was in der Praxis zu Zeitersparnis führt. Nach Befangenheitsanträgen soll die Hauptverhandlung nicht stocken, sondern mindestens für zwei Wochen fortgesetzt werden können. Und: „Ins Blaue hinein“ (bloß auf Verdacht) gestellte Beweisanträge sollten durch strengere gesetzliche Anforderungen zumindest erschwert werden.

Die Länder-Justizminister schlossen sich an. Man müsse nachdenken, „wie man das sinnvoller organisieren kann“, meint Mertin. Ein bis zwei Jahre Zeit werden sich Justizminister Maas, Bundestag und Bundesrat für eine Reform nehmen müssen. Für das Love- Parade-Verfahren oder für Richter Götzl käme sie zu spät. Wenn er ein Urteil gefällt haben wird, hat er fast die Altersruhegrenze erreicht. Pensionsreif ist er erst recht.