Seit der Marathon-Verhandlungsnacht war Martin Schulz mehr oder weniger abgetaucht. In Dortmund muss sich der SPD-Chef zeigen. Nordrhein-Westfalen gilt als Hochburg der Gegner einer großen Koalition. Montagabend, Vortreffen von rund 70 Delegierten der SPD-Verbände Ostwestfalen-Lippe und Westliches Westfalen. „No GroKo“, keine große Koalition – dieser Schlachtruf klebt auf Notizblöcken, ist auf roten Taschen gedruckt. So ausgerüstet kommen Sozialdemokraten in die Westfalenhalle.

Vor Beginn der nicht öffentlichen Diskussion betont Schulz, er nehme die Bedenken in den eigenen Reihen sehr ernst. Doch die Erfolge im Sondierungspapier mit der Union überwögen. Und dann sei da ja noch Europa. Hier sei ein Aufbruch möglich: „Da bin ich ziemlich sicher, dass wir Skeptiker so überzeugen können, dass wir aus Gegenwind Rückenwind machen können.“

Beim Stichwort Gegenwind fühlen sich einzelne Störer ermutigt, Schulz mit „Volksverräter“-Sprüchen zu beschimpfen. Schulz ringt nur kurz um Fassung. Leute mit „nationalsozialistischem Geschrei“ dürften keinen Platz in Deutschland haben – auch das sei ein Punkt, den die Delegierten bei ihren Überlegungen bedenken sollten. Schulz ist nicht allein nach Dortmund gekommen. An seiner Seite sind der nordrhein-westfälische SPD-Landeschef Michael Groschek und die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Andrea Nahles. Die gesamte Parteispitze weiß, was in den kommenden Tage auf dem Spiel steht.

Lässt der Sonderparteitag an diesem Sonntag in Bonn den von Schulz gemeinsam mit CDU-Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer ausgehandelten Vorvertrag für eine große Koalition durchfallen und blockiert Verhandlungen zur Regierungsbildung, ist Schulz Geschichte. Wie geht er mit diesem Druck um? Kann der 62-Jährige in diesen schicksalhaften Tagen über sich hinauswachsen?

Ein Blick zurück lohnt sich. Wahlkampf im Sommer 2017: Schulz, der vermeintliche Underdog, der Mann ohne Abi, der frühere Alkoholiker, der seine Sucht vor fast vier Jahrzehnten besiegte, fordert als Kandidat die Dauerkanzlerin heraus. Emotion gegen Raute. Beim Parteitag im März 2017 bekommt er 100 Prozent. Historisch. Besser als Kurt Schumacher. Mehr als Willy Brandt. Doch alles geht schief.

Drei Landtagswahlen verliert die SPD, darunter in ihrer Herzkammer an Rhein und Ruhr. In den Wochen vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen taucht Schulz komplett ab. Der Legende nach auf Bitten der dann abgewählten NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, die keine Einmischung des Willy-Brandt-Hauses wünscht.

Bei der Vorbereitung auf das TV-Duell mit Merkel im September kurz vor der Wahl steigert sich Schulz so in das Training mit einem Merkel-Double hinein, dass er völlig den Faden verliert. „Ich musste unterbrechen, weil ich die Aggression nicht bewältigen konnte“, sagt er später dem „Spiegel“-Reporter Markus Feldenkirchen, der Schulz im Wahlkampf begleitete. Nach dem verlorenen TV-Duell beklagt er sich bei einem Essen mit seinem Team: „Ich muss da jeden Tag erklären, dass ich Kanzler werden will, und jeder weiß: Der wird niemals Kanzler. Die Leute finden mich peinlich. Die lachen doch über mich.“

Bei der Bundestagswahl bekommt er die Quittung. 20,5 Prozent. Doch Schulz kann sich halten. Die einfachen Mitglieder, die ihn als ehrliche Haut mögen, sind bis heute seine Lebensversicherung. Rettet ihn diese Zuneigung ein weiteres Mal? Schulz neigt dazu, schlechte Nachrichten als Verschwörung wahrzunehmen. In seinem Umfeld ist man deshalb bemüht, die negativen Eindrücke vom Wochenende herunterzuspielen. Die Wut der No-GroKo-Anhänger in der SPD sei keine Überraschung. Das Nein zu Schwarz-Rot auf einem Landesparteitag in Sachsen-Anhalt? Kein Problem.

Dabei schickte die SPD keinen Geringeren als Sigmar Gabriel zur Werbetour nach Wernigerode. Früher hätte der aus Goslar stammende Ex-Parteichef und populäre Außenminister im heimischen Harz wohl niemals so eine Abstimmung verloren. Gabriels zahlreiche Kritiker in der Partei sagen nun, dies zeige den Machtverlust des geschäftsführenden Vizekanzlers, den Schulz und Nahles aus dem Sondierungsteam verbannten.

Für Schulz war es eine überfällige Emanzipation von seinem „Freund“. Doch Gabriel bleibt für ihn die Messlatte. Der begnadete Machtstratege zeigte vor vier Jahren, wie eine verzagte Partei begeistert werden kann.

Im November 2013 in Leipzig hielt Gabriel eine denkwürdige Rede, listete auf (Doppelpass, Mindestlohn), was die SPD für Wähler und Land verschenken würde, wenn man in die Opposition geht. So eine Rede wünschen sich viele in der Partei an diesem Sonntag in Bonn von Schulz. Er müsste den Eindruck zurückdrängen, bei der tief verunsicherten SPD bleibe alles beim Alten: Schlechtreden der eigenen Erfolge, Opponieren in der Regierung – diese seit Schröders Agenda-Zeiten gepflegten Verhaltensmuster haben mit dazu beigetragen, dass die älteste deutsche Partei sich im steten Niedergang befindet.

Beim Dezember-Parteitag in Berlin vermochte Schulz es nicht, die Delegierten mitzureißen. Dennoch gab es eine breite Mehrheit für Sondierungen. Nun fehlen ihm Leuchtturm-Projekte wie der Mindestlohn, die die Basis begeistern könnten. Weder die Bürgerversicherung noch Steuererhöhungen konnte Schulz durchdrücken. Im 28-seitigen Sondierungspapier sind aber viele Punkte enthalten, die das Leben der „kleinen Leute“, also von Familien und Rentnern, besser machen könnten.

Doch der Vorsitzende wirkt zögerlich. „Ich strebe gar nichts an!“, erzählte er den Jusos. Wie im Wahlkampf, wo er den absoluten Willen zur Macht vermissen lässt, startet er fast zurückhaltend in die alles entscheidenden Tage.

Während GroKo-Skeptiker wie die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, der linke Parteivize Ralf Stegner, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und Juso-Chef Kevin Kühnert die Debatte bestimmten, meldete sich der Parteivorsitzende aus dem heimischen Würselen lediglich mit einem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ zu Wort. Er könne die Skeptiker in den eigenen Reihen verstehen. „So wie ich selbst werden die Delegierten auf dem SPD-Parteitag nur durch Inhalte zu überzeugen sein.“ Ist das die Überschrift eines SPD-Chefs?

In diese Lücke stößt Nahles. Die starke Frau der Partei geht auf die GroKo-Gegner los: „Da wird jetzt ein Ergebnis schlechtgeredet von einigen, die, egal was wir rausgehandelt hätten, gegen die GroKo sind“, sagt sie im Deutschlandfunk. „Das akzeptiere ich nicht, da werde ich dagegenhalten.“

In Niedersachsen stimmt der Landesvorstand für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen, ebenso die Brandenburger und die nordhessische SPD. Dagegen votiert der Berliner Landesband sehr klar mit 21:8 Stimmen gegen Schwarz-Rot. Schulz’ Strategen gehen unverändert von einer klaren Sache beim Parteitag aus. Eine Dreiviertelmehrheit für die GroKo sei realistisch. Von der Idee, nach der Sondierung neue rote Linien zu ziehen, etwa die Bürgerversicherung nachträglich zum Junktim für eine GroKo zu erklären, halten sie in der SPD-Spitze nichts. Aber wenn es in Bonn nur ganz knapp klappt: Bei welchem Ergebnis wäre der Vorsitzende beschädigt? „Mehrheit ist Mehrheit“, heißt es im Willy-Brandt-Haus.