Berlin.

Auch Straftäter genießen Abschiebeschutz. Das Karlsruher Verfassungsgericht hat in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss zugunsten eines Türken entschieden, der in Berlin wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden war.

Die Ausländerbehörde wollte ihn abschieben. Der Mann wehrte sich: Ihm drohe in der Türkei Folter. Das Gießener Verwaltungsgericht hätte das Risiko nach Ansicht des Zweiten Senats überprüfen müssen oder sich alternativ von der Regierung in Ankara zusichern lassen, in diesem Fall nicht zu foltern.

Vom Mann geht weiterhin eine „erhebliche Gefahr“ aus

Es ist nicht das erste Mal, dass sich eine Behörde oder ein Gericht eine Rüge von den Verfassungshütern einhandelt, weil es ein Urteil pauschal und vorschnell gefällt hat. Und doch wirft der schriftliche Beschluss vom 18. Dezember, der am Dienstag veröffentlicht wurde, Fragen auf: Ist er weltfremd? Und ist er praktikabel und verhältnismäßig?

Vom Mann geht nach Ansicht der Behörden weiter „eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit aus“. Wenn das stimmt, müssen die Sicherheitsbehörden ihn im Auge behalten, was zeit-, personal- und kostenaufwendig, aber spätestens nach den Versäumnissen im Fall des Berliner Attentäters Anis Amri faktisch alternativlos ist.

Der Kläger ist 30 Jahre alt und in Rüsselsheim geboren. Mit 24 Jahren wurde er Muslim, dann allerdings legte er einen radikalen Eifer an den Tag. Er nahm Kontakt zur Salafisten-Szene auf, reiste 2013 mehrfach nach Syrien und lebte dort „in einem von der terroristischen Vereinigung Junud al-Sham beherrschten Dorf“, heißt es in dem Beschluss. Ihr spendete er Geld und einen Geländewagen. Nach der Rückkehr nach Hessen nahm er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einen Bankkredit in Höhe von 25.000 Euro auf und überwies das Geld über Mittelsmänner auf ein Konto der Terrororganisation „Islamischer Staat“.

Die Behörden kamen ihm auf die Spur, im März 2014 wurde er verhaftet, im Juli 2015 verurteilt, ein Jahr später wies die Ausländerbehörde Wetteraukreis seine Abschiebung an. Er klagte über alle Instanzen und stellte Mitte August 2017 einen Asylantrag, der acht Tage später als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurde. Zwar wird gegen ihn in der Türkei wegen angeblicher Mitgliedschaft bei al-Qaida ermittelt, aber die deutschen Behörden fühlten sich bei der Abschiebungsentscheidung sicher. Sie beriefen sich auf einen Bericht des Auswärtigen Amts vom Februar 2017. Danach sei es zwar nicht ausgeschlossen, dass in der Türkei Anhänger der kurdischen PKK und der Bewegung des Predigers Gülen gefoltert würden. Indes gebe es keine Anhaltspunkte, dass es Islamisten auch so ergehe. Was den Mann rettet, ist ein Schreiben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International vom September 2017. Amnesty hat zwar keine eigenen Erkenntnisse über die Folter von Islamisten in der Türkei. Aber der Organisation liegt das Schreiben eines Vaters vor, dessen Sohn in einem Gefängnis in Corum inhaftiert sei. Dort sei er seit einiger Zeit mit Mitgefangenen schwer geschlagen und gefoltert worden. Auch ärztliche Versorgung werde ihnen verweigert. Das Verwaltungsgericht ging darüber hinweg: Die Angaben von Amnesty seien „nicht verifizierbar“ – mit der lapidaren Begründung fiel es bei den obersten Richtern durch.

Der Amnesty-Bericht sei „Anlass zu weiterer Sachaufklärung oder zur Einholung von Zusicherungen der türkischen Behörden zur Behandlung des Beschwerdeführers“. Es bestünden hinreichende Anhaltspunkte für eine Foltergefahr. Die Verfassungshüter haben nicht beurteilt, ob in der Türkei gefoltert wird. Aber sie haben Ausländerbehörden und untere Gerichte dazu verpflichtet, sich ein Bild zu machen.

Ein Beschluss für die Freiheit, aber gegen mehr Sicherheit?

Es gibt Hunderte „Gefährder“ und „relevante Personen“ im islamistischen Milieu. Einige kämen für Abschiebungen in Betracht. Nach dem Karlsruher Beschluss stellt sich die Frage, ob die einzelne Ausländerbehörde, das einzelne Gericht nicht lieber von vornherein auf der sicheren Seite bleibt und von einer Abschiebung absieht. In Zweifel für die Freiheit, gegen mehr Sicherheit?

In Berlin könnte der Karlsruher Beschluss ein Nachspiel haben. Der Vorsitzende des Innenausschusses, Ansgar Heveling (CDU), sagte unserer Zeitung, wenn die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung für eine Abschiebung „überspannt“ würden und aus einem einzelnen Hinweis eine allgemeine Aufklärungspflicht erwachse, „könnte das die Hürden für eine Abschiebung bis hin zur Undurchführbarkeit massiv erhöhen“. Indirekt stellt der CDU-Mann die Frage, ob der Beschluss verhältnismäßig ist. Zwar habe das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz ein hohes Gewicht. Doch seien die Anforderungen auch an die Pflichten zur Gewährleistung der Sicherheit für die Bevölkerung zu messen.