Berlin. Neue Untersuchung: Aggressivität je nach Herkunft und Geschlecht unterschiedlich ausgeprägt. Zuwanderer aus Maghreb-Staaten deutlich überrepräsentiert

Der jüngste Anlass war der Fall in Kandel. Nachdem in der Kleinstadt in Rheinland-Pfalz ein minderjähriger Afghane eine 15 Jahre alte Schülerin erstochen hatte, diskutierte das Land über Flüchtlinge und Kriminalität – wieder einmal. Ob und wenn ja, wie sehr die Kriminalität in Deutschland mit dem Zuzug von Flüchtlingen zugenommen hat, ist seit dem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen 2015 ein wiederkehrendes Thema.

Die neuesten Antworten auf diese Frage gibt ein Team aus Kriminologen in einem Gutachten. Im Auftrag des Bundesfamilienministeriums untersuchte Christian Pfeiffer, Direktor a. D. des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und ehemaliger Justizminister des Landes, mit Kollegen aus Zürich und Hannover am Beispiel Niedersachsen, ob Flüchtlinge häufiger gewalttätig sind als andere Bevölkerungsgruppen. Zumindest auf den ersten Blick heißt die Antwort eindeutig Ja: Für 2015 und 2016, als besonders viele Menschen nach Deutschland kamen, nahm Gewaltkriminalität in Niedersachsen laut polizeilicher Kriminalstatistik um rund zehn Prozent zu. Zuvor war sie jahrelang gesunken. Dieser Anstieg ist nach der Analyse der Forscher zu 92 Prozent auf Flüchtlinge zurückzuführen. Die Zahl der Fälle, in denen Geflüchtete tatverdächtig sind, stieg im selben Zeitraum um 241 Prozent. Viele der Fälle spielen sich dabei in der Flüchtlingsgemeinschaft ab: So waren bei vorsätzlichen Tötungsdelikten, die Flüchtlingen zugeschrieben werden, 91 Prozent der Opfer selbst geflüchtet.

Der generelle Anstieg der Flüchtlingszahlen erklärt zum Teil die steigenden Fallzahlen: Zwischen 2014 und 2016 verdoppelte sich die Zahl der Flüchtlinge in Niedersachsen. Als Flüchtling zählten die Autoren dabei alle, die in Deutschland irgendeine Form von Schutz erhalten, genauso wie die, deren Asylantrag nicht erfolgreich war und die sich unerlaubt in der Bundesrepublik aufhalten. Innerhalb der Gruppe der Tatverdächtigen gibt es dabei große Unterschiede: Syrer, Afghanen und Iraker, die häufig gute Aussichten haben, in Deutschland Schutz zu finden, machen gemeinsam rund 55 Prozent der Flüchtlinge in Niedersachsen aus. Doch in der Gruppe der Flüchtlinge, die einer Gewalttat verdächtigt werden, liegt ihr Anteil bei nur 34,9 Prozent. Deutlich überrepräsentiert sind unter den Verdächtigen bei aufgeklärten Kriminalfällen dagegen Flüchtlinge aus einigen Maghreb-Staaten: In 17,1 Prozent der Fälle, in denen Flüchtlinge tatverdächtig waren, handelte es sich um Algerier, Tunesier und Marokkaner. Bei Raubdelikten lag diese Quote sogar bei 31 Prozent – mehr als das 35-Fache des Bevölkerungsanteils dieser Gruppe, der in Niedersachsen laut den Wissenschaftlern zu dieser Zeit bei 0,9 Prozent lag. Die Forscher erklären das unter anderem mit den unterschiedlichen Zukunftsperspektiven der Gruppen in Deutschland. Flüchtlinge, die gute Chancen haben, bleiben zu können, seien bemüht, diese nicht durch Fehlverhalten zu gefährden. Migranten aus den genannten Ländern in Nordafrika aber würden bald nach ihrer Ankunft „erfahren, dass sie hier unerwünscht sind“, heißt es in dem Gutachten.

Dazu kommt, dass vor allem unter Geflüchteten aus Nordafrika viele junge Männer sind – eine Gruppe, die „in jedem Land der Welt“ bei Gewalt- und Sexualdelikten deutlich überrepräsentiert sei, wie die Forscher betonen. Zuwanderer aus muslimischen Ländern hätten zudem Vorstellungen von Männlichkeit, die Gewalt rechtfertigen, deutlich stärker verinnerlicht als Gleichaltrige, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind.

Frauen und Mädchen über 14 Jahre machen dagegen nur gut ein Fünftel der Flüchtlinge in Niedersachsen aus. Ohne weibliche Bezugsperson, heißt es in der Analyse, fehle in vielen Fällen eine „gewaltpräventive, zivilisierende Wirkung“, die von Frauen ausgehe. Pfeiffer und seine Kollegen weisen zudem darauf hin, dass das Anzeigenverhalten, das der Kriminalstatistik zugrunde liegt, verzerrend wirkt: So neigen Opfer von Gewalt deutlich eher dazu, Anzeige zu erstatten, wenn der Täter nicht Deutsch spricht. Gleichzeitig zögern nach Angaben der Kriminologen Migranten, die Opfer von Straftaten geworden sind, sich an die Behörden zu wenden.

Familienministerin Katarina Barley (SPD) sagte, angesichts dieser Ergebnisse sei es wichtig, rasch zu einer „guten und menschlichen Regelung“ für den Familiennachzug zu kommen. Die Untersuchung mache deutlich, wie wichtig Frauen für die Integration seien: „Mütter, Ehefrauen und Schwestern sind das soziale Band, das die meist jungen männlichen Geflüchteten brauchen, um sich gut integrieren zu können“, sagte Barley. Gleichzeitig müssten Flüchtlinge Klarheit über ihre Zukunft haben. „Dazu gehört auch, dass diejenigen, die nicht bleiben können, unser Land wieder zügig verlassen“, sagte die Ministerin.