Tel Aviv. Doron Almog leitete Spezialkommandos für die israelische Armee. Als sein behinderter Sohn erwachsen wird, baut er ihm ein Dorf in der Wüste

Die Scheinwerfer und Hunderte Augen sind auf ihn gerichtet. Doron Almog steht auf einer großen Bühne in Tel Aviv, der Saal ist voll, die Kameras laufen. Der frühere General der israelischen Armee wird den Menschen im Saal eine Geschichte erzählen. Für solche Auftritte hat Almog, heute ein Mann Mitte 60, eine Dramaturgie aufgebaut. Sie beginnt im Krieg.

1973. Am 6. Oktober, dem Tag des jüdischen Versöhnungsfests Jom Kippur, greifen die arabischen Staaten an. Der Israeli Almog ist da schon Leutnant, kämpft im Süden des Landes. Sein Bruder Eran ist als Soldat im Norden im Einsatz. Eine Granate der syrischen Armee trifft Erans Panzer, die anderen Soldaten sterben sofort, Eran wird vom Druck nach draußen geschleudert. Er liegt blutend in den Bergen der Golanhöhen, doch niemand kommt ihm zu Hilfe, fast eine Woche lang. Dann stirbt er.

Nach 20 Tagen Krieg erfährt Doron Almog, dass sein Bruder tot ist.

„Ich habe mir später geschworen, niemals einen verletzten Soldaten zurückzulassen, so wie es meinem Bruder passiert ist. Alle für einen, einer für alle“, sagt Almog. Er erzählt gern groß. Seine Sätze kennen kein Vielleicht, er baut lieber Denkmäler mit Worten. Auf der Bühne im Rampenlicht und auch im Wohnzimmer in seinem Haus in Tel Aviv.

Almog fragt: Wie vielist ein Mensch wert?

Der Moment, erzählt Almog, als der Arzt ihm und seiner Frau Didi Frida die Diagnose für seinen Sohn mitgeteilt habe, sei wie ein Erdbeben gewesen. Die Welt, wie er sie kannte, geriet ins Wanken. Im Sommer 1984, elf Jahre nach dem Tod seines Bruders. Corpus-callosum-Agenesie, sagt der Arzt, die rechte und die linke Gehirnhälfte sind nicht ausreichend mit Nervenfasern verbunden. Acht Monate ist ihr Sohn da schon alt, ihr zweites Kind. Der Arzt sagt, er wird niemals ein Wort sprechen können, niemals Mama oder Papa sagen, niemals laufen können, nie die Schule abschließen. Doron Almog sagt: „Mein Sohn ist ein Gefangener in seinem Körper.“

Und Almog, der schon Spezialkommandos in Syrien und Libanon geleitet hatte, der mit seiner Einheit die von palästinensischen und deutschen Terroristen entführten Geiseln aus einer Air-France-Maschine am Flughafen von Entebbe in Uganda befreit hatte. Almog, der die Attentäter des Terroranschlags auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 verfolgt hatte, dieser 33 Jahre alte Soldat also muss nun einen neuen Kampf ausfechten: ein Leben mit einem Sohn, den Teile seiner Familie nicht als einen von ihnen akzeptieren würden. Ein Leben mit einem Menschen, von dem viele in Israel nichts wissen wollten. Weil über Schwäche lieber geschwiegen werden soll.

Wenn Almog von Israel spricht, dann erzählt er von zwei Seiten seiner Heimat. Vom einzigen Staat der Juden, den sie 1948 nach der Teilung Palästinas durch die Vereinten Nationen mit nur 600.000 Einwohnern gegen die arabischen Armeen verteidigt hätten. Das andere Israel ist ein Land der Tabus und der Scham. Seine Eltern hätten ihm die „Liebe für Israel“ gegeben und ihn zu einem „guten Soldaten“ erzogen. Aber seine Eltern zeigten Doron Almog nie, wie er den behinderten Sohn erziehen soll. „Sie ignorierten unser Kind“, sagt er. Wenn Almog im Einsatz für das Militär war, kümmerten sich seine Frau und deren Eltern allein um den Sohn.

Man muss die Geschichte des Soldaten Almog kennen, wenn man ihn heute in die Wüste Negev begleitet. Und vielleicht muss man seine Geschichte auch kennen, um den Staat Israel besser zu verstehen.

Doron Almog hält die Kerze in seiner rechten Hand, beugt sich über den Tisch zu dem Kerzenständer mit den gelben, blauen und roten Blumen. Mit der linken Handfläche stützt er Ayalas Wange, damit ihr Kopf nicht einknickt. Ayala ist 32 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl, ihren Kopf streckt sie weit über die Brust, ihre Arme kreuzt sie vor dem Bauch. Als die Kerze brennt, lacht sie. Heute feiern sie das jüdische Lichterfest.

Hier in der Wüste, sagt Almog, habe er gemeinsam mit anderen so etwas wie eine Utopie aufgebaut. Ein Dorf mit fünf großen Wohnhäusern, mit Schwimmbad und Krankenstation, mit einer Pferdekoppel und einem Raum, der sie vor Raketenangriffen schützt. Mit Amphitheater und Kindergarten, mit einem Fitnessraum und Schaukeln für Menschen in Rollstühlen, mit Ziegen und Kaninchen, mit einem Manager und Pressesprechern, mit Therapeuten, Pflegern und Freiwilligen, die ihnen helfen. Wenn Almog von der Utopie spricht, dann meint er diese zehn Hektar in der Wüste.

42 Millionen Dollar kostete der Aufbau des Dorfes außerhalb der kleinen Stadt Ofakim und 25 Kilometer Luftlinie vom Gazastreifen entfernt. Mithilfe der Organisation Aleh und Geld vom Staat und Spendern finanzierte Almog das Projekt. 140 Bewohner leben in dem Dorf, manche mit Epilepsie, andere mit Downsyndrom, einige sind noch Kleinkinder, andere in ihren Fünfzigern.

Das Ministerium wählt die Bewohner aus, die Wartelisten sind lang. Jeden Morgen kommen außerdem Jungen und Mädchen aus der Gegend in den Kindergarten, manche sind erst ein Jahr alt. Hier sollen sie mit zusammen Schwerbehinderten aufwachsen, ein gemeinsames Leben lernen. Auch Soldaten mit Verletzungen, Geschäftsleute nach Schlaganfällen oder Sportlerinnen nach Unfällen leben für eine Zeit hier und machen Therapien. Genau wie die behinderten Bewohner des Dorfes reiten sie auf den Pferden, schwimmen, trainieren ihre geschwächten Muskeln mit Gewichten.

Almog gibt Interviews und hält Vorträge an Universitäten über das Projekt in der Negev-Wüste. Seitdem bekomme er jede Woche Anrufe von Familien, die ein behindertes Kind haben. Und die nicht wüssten, wie sie weitermachen sollen. Die von dem Gefühl berichten, nicht mehr Teil Israels zu sein, weil ihre Kinder in keinen Heldenepos passen.

Almog und seine Frau Didi Frida hätten dieses Gefühl selbst erlebt, sagt er. Als sie Hilfe für ihren Sohn suchten, seien von Institut zu Institut und von Arzt zu Arzt gelaufen. „Was wir sahen, war schrecklich.“ Es habe in den Einrichtungen für behinderte Kinder gestunken, viele der Jungen und Mädchen hätten geweint, manche seien misshandelt worden. „Ihre Gesichter waren voller Angst“, sagt er. „Wir kamen nach Hause und wussten nicht, was wir tun sollen.“

Und so sei das andere Israel, von dem Almog erzählt, eines, das Autisten oder Menschen mit Downsyndrom an den Rand dränge. Golda Meir, Ministerpräsidentin in den 70er-Jahren, hatte eine behinderte Enkelin. In ihrer Autobiografie verschwieg sie ihren Namen. Jigal Allon, der frühere Vizepremier, hatte eine autistische Tochter. „Auch hier wurde geschwiegen“, sagt Almog.

Israel führt Kriege und muss sich verteidigen gegen Angriffe und Terrorattacken. Das Land exportiert Panzer und Gewehre genauso wie Medizintechnik und Software für Autos. Israel präsentiert sich als moderne Demokratie. Als starker, wehrhafter Staat. Soldaten wie Doron Almog werden zu Helden erklärt. Aber Almog fragt auch: Wie viel ist uns ein Mensch wert, wenn er schwach ist?

Als ihr Sohn erwachsen wurde, bekamen die Almogs Post aus der Gesundheitsbehörde. Die Schule sei vorbei, nun müsse der Sohn in eine staatliche Einrichtung. Eben diese Einrichtungen, von denen die Eltern erschrocken waren. Almog sagt, es sei dieser Brief gewesen, der ihn dazu bewegt habe, aus dem Militär auszutreten und sich ganz um seinen Sohn zu kümmern. Und um das Dorf aufzubauen. Heute sagt Almog auch, dass in Israel vieles erreicht worden sei, dank besserer Medizin und Therapien. Tabus aber würden nur durch Aufklärung gebrochen. Durch Begegnungen. Jedes Jahr kommen 7000 Studenten, Politiker, Soldaten und Firmenmitarbeiter zu Besuch ins Dorf. Jeder soll sehen, was sie aufgebaut haben. Jeder soll Almogs Botschafter für seine Utopie sein.

Doch nicht alle sehen in ihm einen Helden. Im September 2005 sitzen er und seine Frau in einem israelischen Flieger aus Tel Aviv am Flughafen in London. Sie wollen für Spenden für seine Organisation werben. Kurz nach der Landung bekommt Almog eine Nachricht der israelischen Botschaft in England. Ein Haftbefehl gegen ihn liegt vor. Zwei propalästinensische Aktivisten verlangten seine Verhaftung. Sie sehen in ihm einen Kriegsverbrecher, durch dessen Befehl fast 60 Häuser von Zivilisten in Gaza zerstört worden seien, ein Bruch mit den Genfer Konventionen. Die Behörden in London gaben dem Antrag der Aktivisten statt. Die Polizei fährt Spezialeinheiten am Gate auf. Doch die israelischen Sicherheitskräfte an Bord der Maschine verwehren den Zutritt. Zu einer Eskalation kommt es nicht. Kurz danach hebt der Flieger wieder ab in Richtung Israel. Der Haftbefehl wird aufgehoben.

Doron Almog sagt heute, dass er und andere Politiker und Soldaten Israels verunglimpft würden. „Der Haftbefehl ging nicht gegen mich persönlich, sondern gegen unseren Staat.“ Alle seine Entscheidungen im Militär seien geprüft worden, von den Vorgesetzten, in einigen Fällen auch von Gerichten.

Doron Almog führte Krieg. Er verlor Soldaten an der Front und Familienmitglieder bei einem Anschlag eines Islamisten 2003 in einem Restaurant in Haifa. Almog wurde geehrt, stand im Scheinwerferlicht, aber auch in der Kritik. Er kehrte dem Militär den Rücken zu und baute mit dem Dorf seine neue Mission in der Wüste auf.

Viele Extreme in einem Leben. Viel Israel in einem Leben.

Auf der Bühne in dem großen Saal in Tel Aviv untermalen Fotos auf einer Leinwand Almogs Rede. Er in Uniform, er mit Familie. Bilder vom zerstörten Panzer seines Bruders. Fotos vom Dorf. Almog mit seinem behinderten Sohn.

Seine Frau und er haben ihn bei der Geburt nach Doron Almogs getöteten Bruder benannt. Eran. Und ihrem Kind haben sie das Dorf gewidmet: Eran. So steht es auf einem Schild am Eingang. „Aleh Negev – Nahalat Eran.“ Ein Jahr lang lebte Eran Almog, der Sohn des Generals, dort. Er starb im Februar 2007.