Brüssel.

Es ist die schärfste Drohung, die die EU-Kommission je gegen ein Mitgliedsland ausgesprochen hat: Das am Mittwoch eingeleitete Sanktionsverfahren gegen Polen könnte theoretisch dazu führen, dass die stolze Republik wegen der umstrittenen Justizreform ihre Stimmrechte in der EU verliert. Aber als Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans die historische Entscheidung erläuterte, wies er entschieden den Eindruck zurück, jetzt greife Brüssel zur oft zitierten „Nuklearwaffe“. Es handele sich vielmehr um einen „Versuch, den Dialog zu führen“. In den nächsten drei Monaten könne die polnische Regierung alle Sanktionen noch abwenden, wenn sie die Justizreform ändere. Nur „schweren Herzens“ setze man in Brüssel das Verfahren in Gang, aber es gebe keine andere Wahl: „Wir tun es für Polen, für die polnischen Bürger“, meinte Timmermans. „Jeder hat ein Recht auf eine unabhängige Justiz“.

Die ist nach Ansicht der Kommission in Polen in ernster Gefahr, wenn nicht bereits hinfällig. Die regierende nationalkonservative PiS-Partei hat demzufolge systematisch und verfassungswidrig in die Struktur der Justiz eingegriffen, um politischen Einfluss auszuüben; es droht „ein massiver Bruch“ der Rechtsstaatlichkeit und ein Ende der Gewaltenteilung. 13 Gesetze seien dazu verabschiedet worden, die letzten erst vor wenigen Tagen: Fast 40 Prozent der Richter seien zwangsverrentet, 25 Gerichtspräsidenten entlassen worden, der oberste Gerichtshof sei politisiert, das Verfassungsgericht nicht mehr unabhängig, klagte Timmermans.

Fast zwei Jahre lang hatte die EU die Regierung in Warschau zur Umkehr gemahnt, vergeblich. Erst jetzt, nach 25 Mahnschreiben, entschied sich die Kommission, neben einer weiteren Klage vor dem Europäischen Gerichtshof auch endlich ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten. Also jener Regelung, die in Brüssel als „nukleare Option“ bezeichnet wird – auch deshalb, weil sie vor allem zur Abschreckung gedacht ist. Denn im Ernstfall könnte sich die vermeintlich schärfste Waffe als stumpfes Schwert erweisen. Schon das Verfahren ist langwierig: Erst mal müssen die EU-Mitgliedstaaten und das EU-Parlament Anfang 2018 dem Vorstoß zustimmen und eine ernsthafte Gefahr für rechtsstaatliche Grundsätze in Polen bestätigen; eine Mehrheit dürfte zustande kommen. Die Bundesregierung etwa unterstützt die Linie der Kommission ausdrücklich.

Doch um Polen dann – frühestens im April – die Stimmrechte zu entziehen, müssten alle anderen Regierungen einstimmig eine schwere Verletzung von Grundwerten feststellen. Das ist nicht in Sicht: Die Regierung Ungarns hat ihr Veto angekündigt. Entsprechend gelassen reagierte Polen auf das neue Verfahren. Zwar hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Polens Premier Mateusz Morawiecki für den 9. Januar zum Dinner eingeladen. Doch während Juncker versichert, „wir sind nicht im Krieg mit Polen, sondern in einem Annäherungsprozess“, betont Morawiecki: „Die Justizreform in Polen ist unerlässlich.“

Dieser Ansicht scheint sich Polens Präsident anzuschließen: Andrzej Duda hat am Mittwochabend angekündigt, die Reformen zum Obersten Gericht und zum Landesjustizrat zu unterzeichnen. Im Juli hatte Duda die von der Regierung vorgelegten Gesetze per Veto gestoppt und überarbeitet. Auch seine Entwürfe würden den politischen Kaderwechsel in der Justiz ermöglichen, sagen EU-Rechtsexperten.