Berlin. Beim Gedenken für Opfer am Breitscheidplatz räumt Kanzlerin Merkel Fehler ein, Berlins Bürgermeister Müller bittet um Verzeihung – Hinterbliebene weihen Mahnmal ein

Als am Dienstagabend die Glocken der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz zu läuten beginnen, ab 20.02 Uhr für genau zwölf Minuten zum Gedenken an die zwölf Todesopfer des Attentats vor genau einem Jahr, wirkt es so, als friere das Leben auf dem Platz für einen Moment ein. Nicht nur wegen der Kälte, die seit dem Morgen als nasser Nebel über Berlin liegt. Der Platz steht still, weil es der Moment ist, in dem, nach einem langen Tag sehr vieler Worte einfach gemeinsam geschwiegen wird.

Begonnen hatte der Tag ebenfalls in ungewöhnlicher Stille. Schon seit Montagabend waren die Straßen rund um den Breitscheidplatz gesperrt. Dienstagfrüh fahren Polizeiautos vor, Räumpanzer und Wasserwerfer, Polizisten mit Maschinenpistolen sperren den Zugang zum Weihnachtsmarkt. Auf den Dächern stehen Scharfschützen. Es sieht aus, als wolle man genau ein Jahr nach dem Attentat Wehrhaftigkeit demonstrieren. Keinesfalls soll an diesem Tag auch nur irgendwas schiefgehen.

Die Absperrungen haltenden Berliner Alltag draußen

Es ist Dienstag, fünf Tage vor Weihnachten, der Tag, an dem sich der terroristische Anschlag auf den Weihnachtsmarkt jährt, zwölf Tote, rund 50 Verletzte, viele werden nie wieder gesund. Viele Helfer und Augenzeugen ringen bis heute mit den traumatischen Eindrücken. Es sollte ein Tag des Gedenkens werden, der geteilten Trauer und der Anerkennung von Verlust. Er beginnt mit unwirschen Hinweisen der Sicherheitsleute und Kopfschütteln über die immensen Sicherheitsvorkehrungen. Ein älterer Herr fasst das Gefühl der Passanten zusammen: „Das ist doch alles übertrieben, wollen die uns Angst machen?“ Eine Frau bleibt stehen, etwa 30, schwarz gekleidet und legt an den Absperrungen eine weiße Rose nieder. Die erste habe sie am Tag nach dem Anschlag genau hier abgelegt, sagt sie. Seitdem kommt sie einmal im Monat. Sie wohnt in der Nähe. „Der Anschlag hat mit gezeigt, dass der Terror direkt vor unserer Haustür passieren kann.“ Eine solche Gedenkveranstaltung, findet sie, hätte viel früher stattfinden sollen, „nicht erst ein Jahr danach“.

Gegen 10.15 Uhr fahren schwarze Limousinen vor: Justizminister Heiko Maas (SPD) ist einer der ersten Gäste des interreligiösen Trauergottesdienstes in der Gedächtniskirche, der um 11.15 Uhr beginnt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) nehmen teil. An den Absperrungen stehen ein paar Demonstranten, zwei wollen eine neue Reformation ausrufen, ein anderer fordert, Kanzlerin Merkel gehöre eingesperrt, sie habe „Blut an den Händen“.

Hinter den Absperrungen regeln Sicherheitsleute den Ablauf des Tages. Alles, jeder Sitzplatz, jedes Wort, sogar die Ablageorte für die weißen Rosen sind genau choreografiert. Nichts soll schiefgehen. Rund 300 Menschen nehmen an dem interreligiösen Gottesdienst teil. Darunter viele Hinterbliebene der zwölf Opfer, Verletzte im Rollstuhl, ein Kind an der Hand seines Vaters.

„Wir können die Tiefe Ihres Leids nicht ermessen und Ihren Schmerz nur erahnen“, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der nicht öffentlichen Andacht. „Denn für Sie, das wissen wir alle, ist eben seit einem Jahr nichts mehr so, wie es einmal war“, wendet er sich an die Trauergäste. „Wir geben dem Terror nicht nach“, bekräftigt er. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass Schmerz und Leid verdrängt würden. „Dass wir miteinander traurig sind, wütend sind, miteinander das Entsetzen teilen und auch die Suche nach Trost – auch das gehört zum Zusammenhalt, den wir brauchen, um gemeinsam unsere Freiheit zu verteidigen.“ Die versteinerten Mienen und verkrampften Hände erzählen davon, wie schwer dieser Tag für die Angehörigen ist. Tränen fließen erst, als die Hinterbliebenen später gemeinsam das Mahnmal vollenden, das an ihre Toten erinnern wird. Ein „Riss“ aus Bronze zieht sich von der Kirche auf den Platz. Das letzte noch fehlende Stück gießen die Hinterbliebenen gemeinsam mit einem Schmied in eine Form. Eine Frau weint laut, als sie eine Rose auf die Treppenstufen legt, in die die Namen der Toten eingraviert sind. Ein Kind ist es, das das Protokoll durchbricht. Es wählt sich die Kanzlerin als Begleitperson und gibt der Handlung für einen Moment den Anschein der Gemeinsamkeit.

Nach der Eröffnung des Mahnmals kündigt Merkel an, sie wolle Lehren aus den Erfahrungen im Umgang mit den Betroffenen ziehen. In einem offenen Brief hatten Angehörige der Opfer Merkel Untätigkeit und politisches Versagen vorgeworfen. Sie beklagten Bürokratie-Wirrwarr und zeigten sich verbittert, dass Merkel weder persönlich noch schriftlich kondoliert habe. Am Montag hatte Merkel mit Hinterbliebenen schon einmal drei Stunden lang im Kanzleramt gesprochen. Die Gespräche mit den Hinterbliebenen, sagt sie nun, hätten ihr gezeigt, welche Schwächen der Staat in dieser Situation gezeigt habe. Viele Hinterbliebene hätten sich dieses Gespräch aber sehr viel früher gewünscht.

Berlins Regierender Bürgermeister Müller eröffnet das Mahnmal um kurz nach zwölf Uhr offiziell. 300 Trauergäste stehen eine halbe Stunde im Regen, es ist bitterkalt, allein die Kerzen, die die Politiker in den Händen halten, spenden Wärme. Erst bei der dann folgenden Gedenkstunde im Abgeordnetenhaus findet Müller den Ton, den viele Hinterbliebene erwartet haben. Die Angehörigen sitzen nun zwischen Bundesministern und Senatsmitgliedern. Die Bischöfe der katholischen und evangelischen Berliner Landeskirchen sind gekommen, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, und auch der Mann, dessen Behörde für die meisten Ermittlungspannen im Fall des Attentäters verantwortlich gemacht wird: Polizeipräsident Klaus Kandt. Als Regierender Bürgermeister, sagt Müller, bitte er die Angehörigen und Verletzten um Verzeihung für die Ermittlungspannen und die demütigende Behandlung durch die Behörden. Gerade erst hatte seine Verwaltung die Hinterbliebenen mit einem Verwaltungsformular brüskiert, in dem sie aufgefordert wurden, bei der Anreise nur die günstigsten Verkehrsmittel zu wählen. Anfang des Jahres hatten die Hinterbliebenen Rechnungen aus der Berliner Gerichtsmedizin bekommen, bevor auch nur ein Politiker kondoliert hatte.